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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

blumenwerfender Genien höchstens hie und da ein tief nachgedunkeltes Christusbild, oder eine sittige deutsche Frau von Holbein, mit gesenktem Blick und wundervoll gemaltem klaren Stirnschleier; aber es leuchteten auch die unvertilgbaren Farben echter Gobelins und das unverfälschte Gold gepreßter Ledertapeten, und die Fenster umstarrte Brokat in steifer, düsterer Pracht.

Der strenge Geist echt deutschen Bürgerthums, den die Wände hier gleichsam gefangen hielten, mochte die Prinzessin wohl wunderlich genug anmuthen. Sie trat durch die offene Thür des ersten Salons und ergriff mit beiden Händen einen silbernen Humpen, ein riesiges, monströses Gebild, das auf einem Eichentisch inmitten des Zimmers funkelte. Lachend versuchte sie ihn an die Lippen zu führen, – in diesem Augenblick stand Herr Claudius mit einem raschen Schritt neben ihr und erfing das schwere Gefäß – es war ihren Händen entglitten; sie aber starrte, zu Wachs erblichen, auf das Bild des schönen Lothar.

„Mein Gott, mein Gott!“ stammelte sie und legte die Hand über die Augen.

Wenn Etwas uns rasch die Besonnenheit in peinlichen Momenten zurückgiebt, so ist es der plumpe Ausdruck geheuchelter Besorgniß Anderer. … Fräulein von Wildenspring stürzte auf ihre Herrin zu und machte Anstalten, sie zu unterstützen. Die Prinzessin raffte sich auf und wies sie mit einer stolzen Bewegung zurück.

„Was fällt Ihnen ein, Constanze?“ fragte sie mit leise zitternder Stimme. „Bin ich denn so nervenschwach, daß Sie mir eine Ohnmacht zutrauen? Und darf man nicht bewegt sein, wenn man eine längst abgeschiedene Gestalt plötzlich in erschreckender Lebendigkeit vor sich sieht? … Im Glashaus muß mein Flacon liegen geblieben sein, es wäre mir lieb, wenn Sie es holen wollten.“

Das Hoffräulein und Herr von Wismar verschwanden sofort im Corridor. Dagobert und Charlotte zogen sich in eine Fensternische hinter die undurchdringlichen Vorhänge zurück, und mein Vater stand bereits im Nebenzimmer und betrachtete ein geschnitztes Crucifix. Das Zimmer war für einen Moment scheinbar leer geworden. Tief aufathmend trat die Prinzessin vor das Bild – nach einer Pause des lautlosesten Schweigens winkte sie Herrn Claudius neben sich.

„Hat Claudius das Bild für Sie malen lassen?“ fragte sie mit fliegendem Athem.

„Nein, Hoheit.“

„Dann wissen Sie auch nicht, wer es einst besessen hat?“

„Es ist der einzige Gegenstand, den ich aus der ehemaligen Wohnung meines Bruders an mich genommen habe.“

„Ah, die Wohnung in der Karolinenlust,“ athmete sie erleichtert auf; „also aus seinen eigenen Zimmern. … Wer mag es gemalt haben? Das ist nicht der Pinsel unseres alten, pedantischen Hofmalers Krause – der war niemals fähig, so überwältigend die Seele in das Auge zu legen.“ …

Sie schwieg einen Moment und preßte das Taschentuch an die Lippen.

„Es kann nicht lange vor seinem – Heimgang gemalt sein,“ fuhr sie in vibrirenden Tönen fort. „Dies Silbersternchen, das da zwischen seinen anderen Orden hervorsteht, hat meine Schwester Sidonie zwei Jahre vor ihrem Tode auf einer Landpartie in übermüthiger Laune gestiftet – es trug die Devise ‚Treu und verschwiegen‘ und hatte selbstverständlich für die Decorirten keinen anderen Werth, als die Erinnerung an einen froh verlebten Augenblick.“ …

Abermals Todtenstille, die nur ein schwaches Rauschen der Seidenvorhänge unterbrach.

„Seltsam,“ fuhr die Prinzessin plötzlich empor, „Claudius trug nie Ringe, man sagte ihm nach, aus Eitelkeit, damit die unvergleichlich schöne Form seiner Hand nicht beeinträchtigt werde, und da – da sehen Sie doch den Streifen am Goldfinger der linken Hand … ich habe diese Hand genau gekannt, ich habe sie oft gesehen, aber bis zu jenem unseligen Augenblick stets ohne diesen eigenthümlichen – einfachen Reifen – was soll er hier? Er sieht aus wie – ein Trauring.“

Herr Claudius antwortete mit keinem Laut – seine feinen Lippen, die sich stets fest aneinanderschlossen, wie man dies häufig bei tief nachdenkenden Naturen findet, bildeten eine noch schärfere Linie als sonst; ob er wohl, gleich mir, Charlottens Augen bemerkte, die förmlich glühend an seinem Gesicht hingen?

„Mein Gott, wohin versteigt sich meine Phantasie!“ sagte die Prinzessin nach einer kurzen Pause mit einem melancholischen Lächeln. „Er war ja nicht einmal verlobt – nein, nie, die ganze Welt weiß das. … Gleichwohl, sagen Sie mir aufrichtig, hat wirklich Niemand das Bild nach seinem Tode reclamirt?“

„Hoheit, es existirt Niemand außer mir, der irgend welchen Anspruch auf Lothar’s Nachlaß hätte.“

Was war das? … Die Antwort war so vollkommen unbefangen und trug so unverkennbar das Gepräge strenger Wahrhaftigkeit, daß ein Zweifel undenkbar schien. Charlotte fuhr mit bleichem Gesicht und allen Zeichen eines tödtlichen Schreckens unter der Gardine hervor – sie hatte offenbar denselben Eindruck empfangen wie ich. Nur Dagobert maß seinen Onkel mit einem langen verächtlichen Blick, und ein höhnisches Lächeln kräuselte seine Lippen – er war seiner Sache gewiß, er war der unumstößlichen Ueberzeugung, daß der Mann dort gelogen. … Welcher von Beiden war im Unrecht? Noch wünschte ich den Geschwistern den Sieg; aber ich meinte auch, nie in meinem Leben einem Menschen wieder glauben zu können, wenn es sich bestätigte, daß ein Mann wie Herr Claudius sich zu einer gemeinen Lüge herabgelassen habe.

Die zwei Abgesandten kamen achselzuckend und unverrichteter Sache aus dem Glashause zurück, und das Flacon fand sich schließlich in der Tasche der Prinzessin, die plötzlich ihre ganze imponirende Ruhe wiedergefunden hatte. Nur auf ihren Wangen, die sonst wie von einem zartrosigen Flaum überhaucht schienen, war ein tiefer Purpur liegen geblieben.

Fräulein von Wildenspring versicherte ängstlich, der Himmel hänge voll schwarzer Gewitterwolken, eine Aussage, die auch durch die sich auffallend verdichtenden Schatten in den Zimmern bestätigt wurde. Gleichwohl setzte sich die Prinzessin und nahm von den köstlichen Früchten, die ihr Fräulein Fliedner in einer silbernen Schale bot. Die Anwesenden gruppirten sich um sie her, nur mein Vater fehlte; weit drüben in einem der letzten Zimmer wanderte er forschend und betastend von Möbel zu Möbel – er schien total vergessen zu haben, mit wem er hierher gekommen, und man ließ ihn lächelnd gewähren.

Mir war so benommen und unheimlich zu Muthe, als müsse der ganze Plafond mit seinem schweren Stuck in den schwülen Salon hereinbrechen, oder auch, als könne sich jeden Augenblick das Unglaubliche ereignen, daß der schöne Lothar aus seinem Rahmen mitten in die Gesellschaft herabsteige. Wie furchtbar sprechend seine Augen niedersahen, und wie warm und lebendurchströmt „die unvergleichlich schöne Hand“, die den schmucklosen, verhängnißvollen Reif trug, sich von dem dunklen Sammet des Hintergrundes hob!

Vielleicht las die Prinzessin diese beängstigenden Gedanken auf meinem Gesicht; sie winkte mir.

„Mein Kind, Sie dürfen nicht so traurig sein,“ sagte sie mild und weich, während ich, eingeschüchtert durch die auf mich gerichteten Augen Aller, rasch und unwillkürlich vor ihr hinknieete – ich hatte das ja auch oft bei Ilse gethan. Sie legte die Hand auf meinen Scheitel und bog mir den Kopf in den Nacken „Haideprinzeßchen! Wie hübsch das klingt! … Aber Sie sind doch eigentlich kein Kind der nordischen Haide mit Ihrem braunen Gesichtchen und der kleinen, orientalisch gebogenen Nase, mit den dunklen, widerspenstig wilden Locken und dem scheuen Trotz in Ihren Zügen und Bewegungen – weit eher solch eine kleine Prinzessin der ungarischen Steppe, der am Abend die geraubten Schätze vor die Füßchen geschüttet werden, die sich mit köstlichen Perlen aus dem Orient behängt – ach, sehen Sie, wie Recht ich habe?“ lächelte sie und erfaßte die Perlenschnur, die mir tief über die Brust herabgefallen war; einen Augenblick ließ sie dieselbe überrascht durch ihre Finger rollen. „Aber das sind ja wirklich und wahrhaftig die schönsten Perlen die Sie da tragen!“ rief sie bewundernd. „Sind sie Ihr Eigenthum, und von wem haben Sie diese Schnur auserlesener Stücke?“

„Von meiner Großmutter.“

„Von der Mutter Ihres Vaters? … Ach ja, wenn ich nicht irre, war sie eine Geborene von Olderode, aus dem uralten, reichen Freiherrngeschlecht – nicht wahr, mein Kind?“

Eine Bewegung über dem Haupte der Prinzessin machte mich rasch aufblicken – da stand Dagobert mit gehobenem Zeigefinger und sein Blick traf magnetisch und durchbohrend den meinen. …

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 778. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_778.jpg&oldid=- (Version vom 2.3.2018)