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verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

„Onkel Erich, das ist ein schwerer Schlag!“ rief Charlotte, während sie zu ihm auf die Schwelle trat.

„Ja,“ sagte er einfach ohne jede weitere Bemerkung. Dann wandte er sich in die Hausflur zurück, wo Fräulein Fliedner stand.

„Liebe Fliedner, sorgen Sie dafür, daß Fräulein von Sassen sofort in trockene Kleider kommt – ich mache Sie verantwortlich dafür!“ befahl er in seiner gewohnten gelassenen Weise und zeigte auf meine beschmutzten, kläglich geweichten Atlasstiefelchen und mein regennasses Kleid. … In das Gesicht sah er mir nicht mehr.

Er bestieg rasch den Wagen und ergriff die Zügel.

„Nimm mich mit nach Dorotheenthal, Onkel!“ rief Dagobert, der eben in Begleitung des nunmehr mit Hut und Mantel versehenen Buchhalters aus dem Garten trat.

„Es ist kein Platz, wie Du siehst,“ versetzte Herr Claudius kurz und deutete auf mehrere Arbeiter zurück, die mit angsterfüllten Mienen nach Eckhof einstiegen – sie waren aus Dorotheenthal.

Der Wagen brauste hinaus, und Fräulein Fliedner ergriff meine Hand und führte mich in ihr Zimmer. Charlotte kam nach.

„Sie sind aber auch naß wie ein gebadetes Kätzchen!“ sagte sie zu mir, während Fräulein Fliedner trockene Kleider herbeitrug.

„Merkwürdig, daß der Onkel in diesem Moment, wo seine Schacherseele Tausende verliert, Augen dafür hatte!“

„Daran können Sie eben sehen, daß er keine Schacherseele ist,“ versetzte Fräulein Fliedner. Ihr mildes Gesicht war noch blaß vom Schrecken, und jetzt glitt auch ein bitterer, herber Zug um ihren Mund. „Ich habe Sie schon oft gebeten, Charlotte, dergleichen harte und ungerechte Bezeichnungen vor meinen Ohren nicht laut werden zu lassen – ich kann das wirklich nicht ertragen.“

„So – aber Sie schweigen und finden es ganz in der Ordnung, wenn der Onkel mir in Ihrem Beisein den Text liest und in seiner grausam kalten Ruhe durchaus nicht glimpflich mit mir verfährt!“ rief sie heftig. „Wenn er noch ein ehrwürdig alter Mann wäre, dann ertrüge sich’s leichter – aber mein Stolz bäumt sich auf gegen diesen Mann mit den Feueraugen, der vor meinem Bruder und mir weniger die Erfahrungen der Jahre, als die äußere Macht voraus hat. Er mißhandelt uns!“

„Das ist nicht wahr,“ sagte Fräulein Fliedner entschieden.

„Er wehrt nur den Neigungen, die er nicht dulden darf. … Wenn Sie freilich eigenmächtig und rücksichtslos handeln, dann müssen Sie sich auch eine Zurechtweisung gefallen lassen, Charlotte. … Es hat heute wieder Etwas gegeben, was Sie vermeiden konnten. Während Herr Claudius mit der Prinzessin im Glashause war, hat unser Haustischler an sämmtlichen Fenstern Ihrer Wohnung Maß genommen – Sie hätten Jalousien bestellt, sagte er –“

„Nun ja – ich habe lange genug die Sonne geduldig auf meine unglückliche Haut scheinen lassen,“ unterbrach sie Charlotte trotzig. „An die Sonnenseite gehören Läden –“

„Ganz recht; aber es war nicht mehr als billig, daß Sie Herrn Claudius darum befragten – es ist sein Haus und sein Geld, über welches Sie dabei verfügen.“

„Gott im Himmel, einmal wird noch die Zeit kommen, wo ich diese Ketten nicht mehr werde klirren hören!“ rief Charlotte in ausbrechender Leidenschaft.

„Wer weiß, ob sie Ihnen dann nicht eines Tages wieder wünschenswerth erscheinen,“ sagte Fräulein Fliedner sehr gelassen.

„Meinen Sie, liebe, gute Fliedner?“ – Der lächelnde Hohn in der Stimme der jungen Dame klang mir geradezu fürchterlich. „Eine niederschlagende Prophezeiung! … Trotzdem bin ich so kühn, zu hoffen, ja ganz gewiß zu erwarten, daß es die Vorsehung denn doch ein klein wenig besser mit mir im Sinne hat.“

Sie schritt nach der Thür.

„Wollen Sie nicht den Thee bei mir trinken?“ fragte Fräulein Fliedner so freundlich und friedfertig, als sei nicht ein bitteres Wort gefallen. „Ich werde ihn sogleich besorgen – ich bin ja für Fräulein von Sassen’s Gesundheit verantwortlich gemacht und muß der möglichen Erkältung vorbeugen.“

„Ich danke!“ sagte Charlotte in der offenen Thür mit kaltem Tone über die Schulter zurück. „Ich will mit meinem Bruder allein sein. … Schicken Sie mir die Theemaschine hinauf, aber die kleine silberne, wenn ich bitten darf – ich mag nicht mehr aus Messing trinken, und wenn es Dörte auch noch so ‚goldblank‘ putzt … Adieu, Prinzeßchen!“

Sie ließ die Thür in’s Schloß fallen und eilte mit dröhnenden Schritten die Treppe hinauf. Fast unmittelbar darauf rauschten grelle Clavieraccorde durch das stillgewordene Haus.

Die alte Dame schrak sichtlich zusammen. „Mein Gott, wie rücksichtslos!“ murmelte sie vor sich hin. „Mir fällt jeder Ton wie ein Schlag auf mein geängstigtes Herz.“

„Ich will gehen und sie bitten, aufzuhören!“ sagte ich, nach der Thür springend.

„Nein, nein, das thun Sie nicht!“ hielt sie mich ängstlich zurück. „Das ist nun einmal so ihre Gewohnheit, wenn sie sich im Groll zurückzieht, und wir lassen sie darin auch stets gewähren. Aber heute, gerade in diesen Stunden voll Angst und Sorgenqual – was mögen die Leute im Hause davon denken! Sie gilt ohnehin für viel herzloser, als sie ist,“ setzte sie bekümmert hinzu.

Sie drückte mich in die Federkissen des Sophas und begann den Theetisch herzurichten. Zu jeder andern Zeit wäre es sicher urgemüthlich in dem altfränkischen Zimmer der alten Dame gewesen. Die Theemaschine sang; draußen durch die menschenleere Straße strich seufzend der Wind, und der Regen schlug in gleichmäßigem Tempo gegen die Scheiben. Befriedigt nickte das stilllächelnde Gesicht des Pagoden hinter dem Glas in das leise dämmernde Zimmer herein, und der kleine, jähzornige Pinscher lag faul, in sichtlichem Wohlbehagen des Geborgenseins, auf dem Polster. … Aber Fräulein Fliedner strich die Butterbrödchen mit zitternden Händen – ich sah es wohl – und Dörte, die alte Köchin, die einen Teller voll Gebäck hereinbrachte, fragte unter beklommenem Aufseufzen: „Wie mag’s denn draußen stehen, Fräulein Fliedner?“

Mir schlug das Herz in einer unerklärlichen Angst. Ich empfand einen brennenden Schmerz, wenn ich daran dachte, daß Herr Claudius gerade jetzt zürnend von mir gegangen war – und ich mußte, zu meiner Qual, unausgesetzt daran denken. … Wie kindisch eigensinnig und widerspruchsvoll mußte ich ihm erschienen sein, als ich an Charlottens Arm dahergekommen war! …

Trotzdem hatte er Besorgniß um mich gezeigt – Besorgniß für mich kleines, unbedeutendes Wesen in einem Moment, wo ein schweres Mißgeschick über ihn hereinbrach! … Leise schlugen mir die Zähne zusammen, und unter Nervenschauern drückte ich mich tiefer in die weiche Sophaecke. … Auf Fräulein Fliedner’s dringende Bitten schluckte ich eine Tasse heißen Thees hinunter – die alte Dame selbst genoß nichts – still saß sie neben mir.

„Ist Herr Claudius auch in Gefahr da draußen?“ rang es sich endlich von meinen Lippen.

Sie zuckte die Achseln. „Ich fürchte es – gefährlich mag’s schon sein – Wassersnoth ist fast schlimmer, als Feuersgefahr, und Herr Claudius ist nicht der Mann, der in solchen Augenblicken an sich selbst denkt – aber er steht in Gottes Hand, mein Kind!“

Das erleichterte mein Herz gar nicht. … Wie oft hatte ich von Menschen gelesen, die ertrunken waren – unschuldige Menschen, die nichts verbrochen hatten und er sollte ja einen Mord auf dem Gewissen haben! … stand der Mörder auch in Gottes Hand? Das Angstgefühl, unter welchem ich litt, trieb mich unwillkürlich, das auszusprechen.

„Er ist ja schuld an dem Tode eines Menschen,“ sagte ich gepreßt, ohne aufzusehen.

Die alte Dame fuhr zurück, und zum erstenmal sah ich ihre sanften Augen im Ausdruck tiefster Empörung auflodern.

„Abscheulich – wer hat Ihnen das schon gesagt? Und in einer solchen schonungslosen Weise?“ rief sie erregt. Sie stand auf und trat für einige Secunden in eines der Fenster; dann setzte sie sich wieder zu mir und nahm meine beiden Hände in die ihrigen.

„Wissen Sie auch Näheres darüber?“ fragte sie ruhiger.

Ich schüttelte den Kopf.

„Nun, dann mag sich Ihre junge, in Welt und Leben so unerfahrene Seele allerdings ein grauenhaftes Bild machen – ich kann mir das lebhaft deuten – armer Erich! … Es ist freilich die dunkelste Stelle in seinem Leben; aber, mein Kind, er war damals ein junger Mann von kaum einundzwanzig Jahren, ein leidenschaftlich und enthusiastisch empfindender Mann. … Er hat

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verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1871, Seite 795. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_795.jpg&oldid=- (Version vom 24.7.2019)