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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

Ich senkte den Kopf auf die Brust, die sich unter fliegenden Athemzügen hob. Die Sorge um meinen Vater, die Angst vor Charlottens Beginnen, die Menschen, die sich um uns her bewegten, Alles, Alles versank vor den bebenden Tönen, die halb geflüstert an meinem Ohr hinstrichen. … Und er mit seinem scharfen Blick, er mochte wohl wissen, was in mir vorging. …

„Lenore,“ sagte er, sich über mich herabbeugend, „wir wollen denken, wir Beide seien mutterseelenallein im alten Kaufhause und hätten mit all Denen“ – er deutete in die Zimmer hinein – „nichts zu schaffen. … Ich weiß, wem Ihr mutiges Bekenntniß heute Abend galt – ich nehme die Wonne jenes Augenblicks für mich, mich allein in Anspruch, gegen die ganze Welt, ja, gegen Sie selbst, wenn Sie im alten Trotz zu leugnen versuchen wollten! … Unsere Seelen berühren sich, mögen Sie auch, hart genug, mir wehren, die Hand in Wirklichkeit zu fassen, die mir einst mein Geld trotzig vor die Füße geworfen hat.“

Mit wenigen raschen Schritten stand er drüben am Flügel, und gleich darauf klangen Harmonien an mein Ohr, die mich in eine Art von Taumel versetzten. … Diese wundervollen Klänge gehörten mir, dem kleinen unbedeutenden Geschöpf allein – sie hatten „nichts mit Denen zu schaffen“, deren Geplauder aus dem letzten Zimmer fern herüberscholl! … Ja, hochauf sprangen die erlösten Quellen der Jugend im Herzen des so schwer Gekränkten, der eine kurze Zeit maßlos aufschäumender Leidenschaft durch Entsagung und vollständige Resignation auf Lebensglück und Lebensgenuß hatte sühnen wollen. … Und die Hände, „die nie wieder eine Taste berührt hatten“, jetzt schlugen sie das Thema an, das die geheimnißvoll vermittelnde Beziehung zwischen seinem gereiften, starken Geist und meiner schwachen, schwankenden Kinderseele aussprach:

„O säh’ ich auf der Haide dort
Im Sturme dich!
Mit meinem Mantel vor dem Sturm
Beschützt’ ich dich!“ –

„Gott im Himmel, ist das nicht Herr Claudius, der spielt?“ fuhr Fräulein Fliedner aus dem Salon herein und schlug bei Erblicken des am Flügel Sitzenden in freudiger Bestürzung die Hände zusammen.

Ich ging an ihr vorüber – ich konnte sie unmöglich in mein Gesicht sehen lassen. In eine der tiefen Fensternischen des Salons flüchtete ich mich, hinter die dicken seidenen Vorhänge, die ich bis auf einen schmalen Spalt zusammenzog – mochten doch da meine Wangen glühen und meine Augen glückselig aussehen; Niemand kümmerte sich um mich, selbst Fräulein Fliedner nicht mehr, die sich jetzt mit gesenktem Kopf und auf dem Schooß gefalteten Händen in die dunkle Ecke gesetzt hatte und regungslos dem Spiel lauschte.

Einen Augenblick blieb es still im leeren Salon. Jeder Ton, auch der Schwächste, schwebte vom Flügel zu mir herüber, und aus dem Zimmer mit dem Hirschkopf klang dann und wann ein Auflachen oder ein lauter gesprochenes Wort dazwischen.

Da kam plötzlich die Prinzessin mit leisen Sohlen über die Schwelle; ich sah, wie sich ihre Brust gleichsam befreit hob unter der Gewißheit, endlich allein zu sein. Sie nahm den verdunkelnden Schirm von der auf dem Theetisch stehenden Kugellampe, so daß auch dieses Licht voll auf Lothar’s Bild fiel. Noch einmal ließ sie ihren Blick rasch und mißtrauisch durch den Salon und das Nebenzimmer streifen, dann trat sie vor das Bild, zog ein Buch aus der Tasche und warf in fliegender Hast mit dem Stift Linien auf das Papier – sie suchte offenbar die Umrisse des schönen Männerkopfes, vielleicht auch nur „die Augen voll Seele“, in diesem unbelauschten Moment zu erhaschen.

Ich erschrak in meinem Versteck, denn ich sah plötzlich bestürzt in das Herz der stolzen fürstlichen Frau und sagte mir selbst, daß sie sicher Lebensjahre darum geben würde, wenn sie das Bild als ihr eigen von der Wand nehmen dürfe. … Niemand fühlte wohl in diesem Augenblick tiefer und inniger mit ihr, als ich, die Glückliche, zu der „die andere Seele“ eben in tiefergreifenden Melodien sprach! … War es mir doch, als müsse ich hervorspringen und ihr Buch und Stift aus der Hand nehmen, um Beides zu verbergen, denn sie hörte nicht, daß nahende Schritte durch die lange Flucht der Zimmer kamen; sie sah nicht auf, als Charlotte, einen Seitenblick auf sie werfend, lautlos durch den Salon huschte, und maßlos erstaunt zurückfuhr, als sie in dem Spielenden am Flügel Herrn Claudius erkannte. Ehe ich mich dessen selbst versah, hatte sie die Thür leise zugedrückt, so daß die Musik nur noch gedämpft herüberklang – dann stand sie mit wenigen Schritten hinter der Prinzessin.

Dieses Geräusch ließ endlich die hohe Zeichnerin aufsehen – purpurn schoß ihr die Röthe des Erschreckens über das ganze Gesicht; aber sie sammelte sich unglaublich rasch, klappte das Buch zu und maß die Störerin über die Schulter mit einem indignirten stolzen Blick.

„Hoheit, ich weiß, daß ich eine schwer zu entschuldigende Tactlosigkeit begehe,“ sagte Charlotte – an dem starken zuversichtlichen Mädchen bebte jede Fiber, ich hörte es an ihrer Stimme. – „Es ist ein günstiger Augenblick, den ich kühn erhasche, ohne die Erlaubniß zu haben, zu Euer Hoheit sprechen zu dürfen, aber ich weiß mir nicht anders zu helfen! … Wenn Hoheit mir auch zu jeder Stunde eine Audienz im Schlosse gewähren wollten, ich glaube, ich würde den Muth nicht finden, das auszusprechen, was ich hier, unter dem Schutze dieser Augen“ – sie zeigte nach Lothar’s Bild – „getrost wage.“

Die Prinzessin wandte ihr im höchsten Erstaunen nun voll das Gesicht zu. „Und was haben Sie mir zu sagen?“

Charlotte sank in die Kniee, ergriff die Hand der fürstlichen Frau und zog sie an ihre Lippen. „Hoheit, verhelfen Sie mir und meinem Bruder zu unserem Rechte!“ flehte sie mit halberstickter Stimme. „Wir werden um unsern wahren Namen betrogen, wir müssen das Gnadenbrod essen, während wir vollgültige Ansprüche auf ein bedeutendes Vermögen haben und längst auf eigenen Füßen stehen könnten. … In unseren Adern fließt stolzes edles Blut, und doch fesselt man uns förmlich mit Ketten an dieses Krämerhaus und zwingt uns gewaltsam in bürgerliche Verhältnisse –“

„Stehen Sie auf und sammeln Sie sich, Fräulein Claudius,“ unterbrach sie die Prinzessin – die hoheitsvolle tiefernste Geberde, mit der sie winkte, hatte durchaus nichts Ermuthigendes. „Sagen Sie mir vor Allem, wer betrügt Sie?“

„Es will mir nicht über die Lippen, denn es sieht aus wie schwarzer Undank. … Die Welt kennt uns nur als die Adoptivkinder eines großmüthigen Mannes –“

„Ich auch –“

„Und doch ist er’s, der uns beraubt!“ fiel Charlotte wie verzweifelt ein.

„Halt – ein Mann wie Herr Claudius raubt und betrügt nicht! Da glaube ich weit eher an einen schweren Irrthum Ihrerseits!“

Ich hätte hervorstürzen und die Kniee der Dame umfassen mögen für diesen Ausspruch.

Charlotte hob den Kopf – man sah, sie raffte all’ ihren Muth zusammen. Mit einer raschen Bewegung stieß sie auch die Thür zu, durch welche ein lautes neckendes Gespräch zwischen der Hofdame und Dagobert herüberscholl. – „Hoheit, es handelt sich hier nicht um Geld – das ist vorläufig völlig Nebensache,“ sagte sie fest. „Herr Claudius liebt den Besitz, aber ich selbst bin fest überzeugt, daß er streng jedweden unrechtlichen Erwerb von sich weist. … Dagegen werden Hoheit mir zugeben, daß schon mancher tüchtige Charakter in leidenschaftlicher Verfolgung einer Idee, einer hartnäckig verblendeten Ansicht zuerst zum Selbstbetrüger und schließlich zum Verbrecher an Anderen geworden ist!“

Sie preßte die Hand auf die Brust und schöpfte tief Athem, während drüben die wundervollen Melodieen hochauf rauschten – er ließ ahnungslos seine strengverschlossene Seele zum ersten Male nach langen Jahren wieder in Tönen ausströmen, und hier wurde sein reiner Name an den Pranger gestellt – und ich durfte ihn nicht einmal warnen, ich mußte aushalten auf dieser Folter! Wie haßte ich in diesem Moment unbeschreiblicher Qualen die Anklägerin dort!

„Herr Claudius mißachtet den Adel, ja, er haßt ihn!“ fuhr sie fort. „Er ist selbstverständlich zu einflußlos, um an dem Bestehenden rütteln zu können; aber wo es in seine Hand gelegt ist, das Erstarken der Aristokratie zu verhindern, da thut er es aus allen Kräften, ja, eben in diesem Punkte scheut er selbst den Betrug nicht. … Hoheit, mit meinem Bruder tritt ein neues Adelsgeschlecht in das Leben, und, ich sage es mit Stolz, eine

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 831. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_831.jpg&oldid=- (Version vom 2.3.2018)