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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

bin die einst vielbeneidete Gemahlin des Bergraths von Krey, bin die – Wahrsagerin, die Sie suchen! Kaum zwei Winter sind verflossen, seit Sie in Köln in meinen Salons die fashionable Welt zu Concerten und Bällen versammelt sahen; Hunderte umdrängten mich und trachteten nach einem freundlichen Lächeln von mir, und jetzt –“

„Aber,“ warf ich, mit Mühe nach Worten ringend, ein, „wie war diese Umwandlung Ihres Schicksals möglich? Ihr Gatte war in einträglichem Amte, wohlhabend, angesehen; Sie selbst besaßen ein beträchtliches Vermögen –“

„Mein Mann,“ erwiderte sie mit tonloser Stimme, „ist todt. Er starb im vergangenen Frühjahr und ließ mich mit zwei Kindern trostlos zurück. Am Tage nach seinem Tode ward Alles in unserer Wohnung gerichtlich versiegelt und wenige Stunden nachher erfuhr ich, daß ich – eine Bettlerin sei. Alphons, dessen unruhiges Wesen mir seit Monaten aufgefallen war, ohne daß mir die Ursache davon zum Bewußtsein gekommen wäre, hatte hoch und unglücklich gespielt: erst hatte er sein Vermögen angegriffen, darauf, als dieses verloren, das meinige. Mein guter Vater hatte ihn richtiger als ich beurtheilt und im Heirathsvertrage meine Zukunft sichern wollen; aber auf meine dringenden Bitten hatte er Abstand davon genommen, die Gütertrennung aussprechen zu lassen. Er war, wie Sie sich erinnern werden, wenige Wochen nach unserer Hochzeit gestorben; so stand ich nach dem Tode meines Mannes allein da!“

„Aber Ihre Verwandten,“ rief ich aus, „die Freunde Ihrer Familie –“

„Meine Verwandten!“ erwiderte sie bitter, „unsere Freunde! Alle zogen sich von mir zurück; kaum, daß man mich, wenn ich einen Besuch machen wollte, annahm! Sie, der vertrauteste Freund meines Mannes, hatten ein Jahr vorher schon Köln verlassen, und ich kannte Ihren Aufenthaltsort nicht. Aber selbst wenn ich Sie während der im Juli beginnenden Kriegswirren hätte ausfindig machen können, so würde ich nach den Erfahrungen, die ich in Köln gemacht, mich wohl kaum an Sie gewandt haben: ich hatte das Vertrauen zu den Menschen verloren. Wir sind Alle Egoisten!“

„Aber wie kamen Sie nach Berlin?“ fragte ich, da mir der Muth fehlte, ihr zu widersprechen.

„Als alle Angelegenheiten meines Gatten geordnet, unser Haus und die kostbare Einrichtung desselben verkauft und mit dem Erlös die letzten Schulden bezahlt waren, verließ ich Köln, wo ich bei jedem Schritte auf der Straße neuen Demüthigungen ausgesetzt war, und begab mich mit meinen Kindern hierher, da ich glaubte, hier in der Stille unbekannt leben und mir außerdem zu der unzureichenden kleinen Wittwenpension, die ich beziehe, durch eigene Thätigkeit so viel hinzu erwerben zu können, um meinen Kindern eine genügende Erziehung zu geben.“

„Da trafen Sie die Verhältnisse bei Beginn des Krieges freilich übel genug für Ihre Zwecke!“ schaltete ich ein.

„Ich versuchte zuerst mein Glück mit Clavierunterricht,“ erzählte sie weiter. „Galt ich doch für eine Meisterin auf dem Clavierflügel! Aber obwohl ich mich in einem halben Dutzend Zeitungen anpries, so fand ich doch nur wenig Beschäftigung: anfangs glaubte ich, ohne Unbescheidenheit einen Thaler für die Stunde fordern zu können; nach wenigen Wochen begnügte ich mich mit eben diesem Honorar für zwölf Stunden. Und doch mehrte sich die Zahl der Schülerinnen nicht! Darauf ging ich in ein Tapisserie- und Stickereigeschäft – Sie erinnern sich vielleicht noch meiner Fertigkeit in Arbeiten dieser Art. Man gab mir einen kaum angefangenen Teppich, den ich möglichst schnell vollenden sollte; ich arbeitete fünf Tage daran vom frühen Morgen bis zur Mitternacht, daß mir die Augen schmerzten, schließlich bekam ich anderthalben Thaler als – Lohn!“

Nach kurzer Pause fuhr sie fort: „Meine Gesundheit fing an zu leiden. Ach! übermäßige Anstrengung, Gram und Noth sind selbst schon drei böse Krankheiten, wir hatten kaum den nothdürftigsten Lebensunterhalt; da hörte ich eines Tages – es war in der Mitte des November –, daß eine Nachbarin vom ‚Wahrsagen‘ lebe und ein reichliches Auskommen habe. Armuth macht nachdenkend, und ich überlegte, daß ich vielleicht auch Talent zu diesem Geschäft haben dürfte. Da entschloß ich mich nach hartem Kampfe – um meiner Kinder willen, bei Gott! nicht um meinetwillen, Herr Assessor –, mein Glück zu versuchen und kündigte in den Zeitungen an, eine erfahrene Frau in der und der Straße verstehe die Zukunft vorherzusagen. In wenigen Tagen hatte ich so viel verdient, um eine bessere Wohnung miethen, Kleidung für mich und die Meinigen anschaffen zu können; wie Sie sehen,“ schloß sie mit Bitterkeit, „die Thorheit meiner Mitmenschen macht mich wohlhabend, meine Kinder hungern nicht mehr, und ich erfreue mich jetzt wenigstens wieder des Scheines jenes Wohlstandes, in dem ich einst wirklich lebte!“

Sie hielt inne und sah mich mit einem fragenden Blick an, gleich als erwarte sie von mir ein Urtheil über ihre Handlungsweise, und ihr Auge ward trüber und trüber, da ich nachdenkend schwieg. Was konnte ich ihr auch sagen! Mit steigendem Interesse, mit tiefem Mitgefühl hatte ich ihren Worten gelauscht; mein Herz sprach für sie, und doch durchzuckte mich eine widrige Empfindung, daß diese hochgebildete Frau auf die Thorheit der Menschen speculire, um ihren Lebensunterhalt zu gewinnen. In diesem Augenblick trat durch die Thür eines Nebenzimmers ein kleines vierjähriges Mädchen von auffallender Schönheit und eilte schüchtern in den Schooß der Mutter, als es den Besuch erblickte. Frau von Krey drückte einen Kuß auf die Stirn des Kindes, und indem sie ihm die blonden Locken streichelte, führte sie es wieder hinaus. Dann sagte sie mit zitternder Stimme: „Nicht wahr, ich mußte für die Meinigen sorgen?“

„Gewiß, gewiß!“ stotterte ich. „Aber doch, gnädige Frau, sollte ich meinen, daß auch der beste Zweck einen Betrug, geschweige denn einen auf stets erneuten Betrug begründeten Beruf nicht zu rechtfertigen vermag!“

Bei dem Worte „Betrug“ zuckte ihr Körper zusammen. „Ist das nicht ein hartes Wort?“ sagte sie, und mit lebhafterer Stimme fuhr sie zu ihrer Vertheidigung also fort: „Bin ich denn wirklich eine Betrügerin? Erinnern Sie sich nicht mehr, wie häufig Sie in Köln an mir das Talent bewunderten, mir bei Begegnung mit Fremden aus ihren Gesichtszügen, ihrer Art sich zu bewegen, aus wenigen anscheinend gleichgültigen Aeußerungen derselben schnell ein scharfbegrenztes Bild des innern Menschen zu entwerfen, und überraschte es Sie nicht oft, wenn ich aus der äußern Erscheinung über die mir unbekannten Erlebnisse derselben Folgerungen zog? Ist es doch nur die unbegrenzte Liebe zu meinem Alphons gewesen, die mich gegen die Schwächen desselben blind machte; hundert Mal habe ich mir seit einem Jahre gesagt, daß ich bei ruhiger Beobachtung vom ersten Tage unserer Ehe an seine unglückselige Neigung zum Spiel hätte entdecken müssen! Was thue ich jetzt anders, als daß ich jenes Talent, mit dem ich einst meine Gäste unterhielt, zu meinem Vortheil benutze? – Da kommt ein siebenzehnjähriges Mädchen in eleganter Toilette, furchtsam und scheu, um mich über ihre Zukunft zu befragen. Ich weiß nach zwei Minuten, ohne daß sie selbst es mir sagt, daß sie die Tochter eines reichen Bankiers ist; ihre Aengstlichkeit sagt mir, daß sie ohne Erlaubniß des Vaters kommt; daß sie aber überhaupt kommt, verräth mir, daß sie liebt, heimlich hinter dem Rücken der Angehörigen liebt! Sie zieht den Handschuh von der kleinen zitternden Hand, um aus den Linien derselben sich wahrsagen zu lassen. Ich sage ihr, ihr Herz sei nicht mehr frei. Sie erröthet. Ich füge hinzu, der Geliebte sei ein trefflicher Mann. Sie hebt den gesenkten Blick, und ein Lächeln des Glücks, der Verklärung fliegt über ihre Züge. Ich lobe seinen edeln Charakter, der frei von jeder Selbstsucht sei. Liebt denn ein siebenzehnjähriges Mädchen jemals, ohne den Gegenstand ihrer Liebe in ihrer Phantasie mit den idealsten Eigenschaften des Herzens zu schmücken?! Schon hat sie Vertrauen zu mir gefaßt, und dreister geworden behaupte ich, ihre Angehörigen wüßten nichts von ihrer Herzensneigung und würden dieselbe, wenn sie sie erführen, mißbilligen. Und das leise Zittern ihrer Hand verräth mir, auch ohne daß sie einen Laut zur Antwort giebt, daß meine Vermuthungen mich nicht täuschen. Wenn ich ihr nun sage, sie müsse zurückhaltend und vorsichtig gegenüber dem Geliebten sein, sie solle Vertrauen zu demjenigen Mitgliede ihrer Familie haben, das sie am meisten verehre, und demselben Mittheilung machen, dann werde sie zwar in der nächsten Zeit viel Kummer haben, ihr Leben sich aber schließlich glücklich gestalten etc., – nun, wie betrüge ich denn da? oder

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 218. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_218.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)