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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

„Nein,“ sagte ich, „absagen lassen im letzten Moment, ohne die allerdringendsten Gründe, das geht nicht; zwei Plätze leer lassen – das kann Frau J. nicht verzeihen. Ueberdies bin ich nun einmal angezogen, vielleicht wird mir besser – ich will mitgehen.“

Wir gingen also. Um acht Uhr pflegte gegessen zu werden. Die Einladung lautete auf sieben Uhr, und wir waren rechtzeitig dort.

Ich hielt immer mein mit Eau de Cologne getränktes Tuch an die Schläfen, und alle Welt nahm Theil an meinem Leiden.

„Ich bleibe bis zum Aeußersten,“ sagte ich zu Frau J., „stellt sich aber Uebelkeit ein, wie gewöhnlich bei diesem Kopfweh, so muß ich verschwinden.“,

Das begriff die gute Dame vollständig, ich sah es an ihrem ängstlichen Gesichtsausdruck, und sie half mir auf das Bereitwilligste, als ich noch vor acht Uhr erklärte, ich wage nicht mehr zu bleiben. Als B. meine Abwesenheit gewahr wurde, hieß es, ich liege nun schon lange zu Bett, und so konnte es ihm nicht einfallen, mir zu folgen.

Indeß war ich an der Seite des Dieners, den Frau J. mir aufnöthigte, nach Hause geeilt, erklärte auch hier, daß ich mich sehr unwohl befinde, und begab mich hinauf in mein Schlafzimmer, strenge Ordre gebend, mich durchaus nicht zu stören. Das mich nach oben begleitende Mädchen hatte kaum das Zimmer verlassen, als ich die Thür verriegelte, mein helles seidenes Kleid auszog und ein dunkles unscheinbares überwarf. Dann band ich ein Tuch um den Kopf, ein anderes um die Schultern, nahm einen großen Regenschirm und eilte dem früher schon erwähnten Gange zu, der nach dem Hinterhause führte. Eine schwere Commode, welche für gewöhnlich die Thür verrammelt hielt, hatte ich gänzlich ausgeräumt, ich schob sie mit leichter Mühe fort; das Schloß hatte ich bereits geöffnet, und so trat ich in den düsteren Corridor, aus dem mir eine modrige, staubige Atmosphäre entgegenwehte. Dort erst aufzuräumen hatte mir die Zeit gemangelt. Langsam tappte ich meinen Weg durch allerlei Gerümpel hindurch. Eine Diele des morschen, lange nicht betretenen Baues brach ein unter meinen Schritten, ich stolperte, und es entstand ein ziemlicher Lärm. Natürlich erschrak ich furchtbar, in meiner Aufregung zuerst einen Sturz in die Tiefe fürchtend, und als ich einsah, daß diese Angst sehr überflüssig war, besorgte ich, man möchte das Geräusch gehört haben, Diebe vermuthen, hierher eilen und mich finden. Aber umzukehren war absolut keine Zeit, ich wußte, was an einer Versäumniß hing, und mit Fieberhast eilte ich vorwärts, entschlossen – koste es, was es wolle – meinen Weg zu gehen. Indeß Alles blieb ruhig.

Im Hinterhause wohnte der unverheirathete Gärtner, der um diese Zeit niemals zu Hause, sondern im Wirthshause zu finden war. Auch beschränkte er sich auf das Parterre; die beiden oberen Zimmer wurden gar nicht gebraucht, und schnell und unbehelligt konnte ich, nachdem einmal der Corridor passirt war, bis an die Hausthür gelangen.

Ich athmete tief auf, als die frische Nachtluft mich umwehte, und schaute bei der nächsten, trübe brennenden Oellaterne zuerst auf meine Uhr. Es war halb neun, und ich hatte noch einen weiten Weg zu machen. Es gereichte mir zur Beruhigung meinen Schirm öffnen zu können, weil ein feiner Regen niederfiel; ich kam mir so gesicherter vor, obwohl mich in meiner Verkleidung und bei der damals so elenden Beleuchtung sicher kein Mensch erkennen konnte.

Ich lief fast der Stadt zu, meine Stirn glühte, mein Herz klopfte und meine Hände waren eiskalt; daß ich mir den Fuß verletzt hatte, merkte ich nicht, so sehr war ich aufgeregt. Mein ganzes Bestreben war darauf gerichtet, in dem Gewirre von Gassen, die ich zu passiren hatte, die directeste Richtung einzuhalten. Am Bernhardsthor bog ich in die Stadt ein, dirigirte mich an der Paulskirche vorbei, dann auf den Liebfrauenberg zu und bog in die Tüngesgasse ein. Hier zog ich nochmals meine Uhr, es fehlten noch fünf Minuten bis neun. Langsam ging ich bis zur bestimmten Ecke und wartete hier in nicht zu beschreibender Spannung. Die Straße war todt und still, selten schallte ein Schritt zwischen den engen Häuserreihen. Da schlug es vom Dom, und ein fiel mit hellerem Klange die nahe Liebfrauenkirche.

Ich trat um die Ecke der Haasengasse.

In demselben Moment löste sich aus dem Schatten der nächsten Gasse eine Gestalt ab.

Sie schien eine Weile zu zögern, blickte sich um und kam dann mir entgegen. Mir war zu Muthe, als müsse ich irgend ein Zeichen geben, und so ließ ich denn meinen Schirm auf die Schulter fallen, so daß er nach hinten lag und mein Gesicht frei gab. Darauf that der Mann, als ob er an mir vorüber gehen wollte, und sagte, wie zu sich selber, aber laut:

„Ist es geschehen?“

„Es ist geschehen, Brutus,“ war meine Antwort.

Sofort bot er mir den Arm und schweigend schritten wir des Weges zurück, den ich gekommen, ich froh und glücklich, wie im Bewußtsein einer vollbrachten Heldenthat, während doch noch lange nicht Alles glücklich vorüber war. Erst als ich das Hinterhaus geöffnet und von innen wieder zugeschlossen hatte, sagte ich: „Geben Sie mir die Hand!“ und führte dann meinen Schützling die Stiegen hinauf und glücklich über den ominösen Corridor in das jenseitige Zimmer, wo Kleider- und Leinenschränke standen und dessen Schlüssel ich sehr wohl abziehen konnte, ohne daß solches im mindesten auffällig gewesen wäre.

Jetzt machte ich Licht und sah mir meinen Gefangenen an, – ein höchstens zwanzigjähriger, bildhübscher Mensch mit braunen verwilderten Locken und großen dunklen Augen. Er dankte mir mit Thränen und in einer Weise, die mich selber zu Thränen rührte. Aber ich mußte ihn schweigen heißen und zur Eile mahnen, denn Alles sollte in Ruhe und Ordnung sein, wenn B. nach Hause kam.

Ich hatte für Waschwasser und frische Kleider gesorgt.

„Fünfzehn Minuten haben Sie Zeit,“ sagte ich, „dann komme ich wieder.“ Damit verließ ich das Zimmer und kam nach Verlauf der Frist mit einem Korbe voll Eßwaaren und einer Flasche Wein zurück. Ich war erstaunt über die noble Erscheinung des Fremden, als er jetzt in anständigen Kleidern mir entgegentrat, – offenbar gehörte er den gebildetsten Lebenskreisen an.

Wie leuchtete sein Auge, als ich meinen Korb auspackte! Ich hatte das Beste gewählt, was meine Speisekammer aufzuweisen hatte, und mit Gier fiel er darüber her.

Aber plötzlich legte er Messer und Gabel hin und sagte: „Ah, Madame! Sie wissen sicher nicht, was Hunger ist, bis vor einem halben Jahre habe ich es auch nicht gewußt. Verzeihen Sie, daß Sie mich so essen sehen!“

Ein Zug von Humor spielte dabei um seinen feinen Mund, und ich erzählte zu seiner Beruhigung von einem Cousin, dessen Appetit im normalen Zustande mit Leichtigkeit eine ganze Gans bewältigen könne. Zugleich aber machte ich mir im Zimmer Allerlei zu schaffen, damit er sich unbeachtet wisse, ging auch zuweilen in’s Nebenzimmer und gönnte ihm reichlich Zeit, zu essen und zu trinken, ohne ihn mit Reden zu stören. Endlich schob er den Teller zurück, lehnte sich hintenüber und erklärte fertig zu sein. Darauf half er mir Geschirr und Ueberreste wieder in den Korb thun, wobei er sich in Dankesworten erschöpfte. Dann wies ich ihm sein auf der Erde bereitetes Lager an, nahm das Licht mit mir, schloß die Thür zu und überließ ihn sich selber. Als B. nach Hause kam, lag ich ganz still zu Bett, so daß er mich schlafend glaubte.

Am anderen Nachmittag erhielt ich folgendes Billet:

„Deponiren Sie einen Frauenanzug! Gewisse Thüren dürfen heute Abend nicht verschlossen sein. Besorgen Sie nichts! man spürt auf ganz anderer Fährte. – Sogleich zu verbrennen.“

In meinem Brief lag ein anderer: „An Brutus.“

Ich packte sogleich den dunklen Anzug zusammen, den ich am Abend vorher getragen hatte, fügte aber noch falsche Locken hinzu, wie sie damals zu beiden Seiten der Schläfe getragen wurden, einen Mantel, einen Sammethut mit langem Schirm, in dem das Gesicht wie in einer Röhre steckte, und einen Schleier.

Damit begab ich mich zu meinem Schützling. Nach Lesung des Billets, was ebenfalls gleich vernichtet wurde, und beim Anblick der mitgebrachten Garderobe gerieth Brutus in freudige Aufregung und der Ausdruck seiner Dankbarkeit gegen mich kannte keine Grenzen.

„Ich habe nur Worte, Madame, nichts als Worte und in diesem Augenblick nicht einmal die Hoffnung, jemals auf andere Weise meine Dankbarkeit beweisen zu können; aber wenn in meinem Leben künftig ein Hülfesuchender oder ein Nothleidender an mich herantritt, so werde ich Ihrer gedenken, Madame, und Anderen zahlen, was ich Ihnen schuldig bleiben muß.“

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