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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

neu erstarken zu lassen. Und dann, wenn man das Eine nicht will, muß man das Andere lassen!

Zu einem Nationaltheater im Sinne der Griechen bringen wir’s, trotz Richard Wagner, sicher nicht mehr; alle Grundbedingungen dazu fehlen. Man klagt über den Verfall des deutschen Theaters, man fühlt den Mangel einer Nationalbühne, und es war ein seltsames, ungeheuerliches Mittel, dem deutschen Theater dadurch aufhelfen zu wollen, daß man es als Gewerbe der freien Speculation preisgab. Ich will nicht gern den Satz unterschreiben: „Die Zukunft des deutschen Theaters, namentlich in Mittelstädten, ist das Café chantant!“ Aber es sieht schon jetzt beinahe so aus. Man kann für Alles, was Fortschritt heißt, sehr eingenommen sein, ohne doch die Weisheit der gesetzgeberischen Maßregel, welche das Theater ohne jeden Schutz der freien Speculation preisgab, fassen zu können. Wenn ihr das Theater systematisch ruinirt, so klagt nicht mehr über seinen Verfall und unterwerft die Auswüchse des kranken Stammes, zu denen auch das Virtuosenthum gehört, in aller Gemüthsruhe einer culturhistorischen Ocularinspection! Wem das Herz voll ist, dem geht der Mund über. Man verzeihe mir die kleine Abschweifung.

Dawison kommt gastiren!“ Mit diesen Worten stürzte eines Tages der Theaterdiener in mein Zimmer. Dieser Theaterdiener, allgemein Fritze genannt, war ein Original. Ein wahres Perpetuum mobile, sah man ihn früh und spät auf den Straßen und auf der Bühne „umherflitzen“. Seine krummen Beine machten seine stete Eilfertigkeit nur noch komischer, und seine höchst liebenswürdige Unverschämtheit ward allseitig gern gelitten. Eine berechtigte Eigenthümlichkeit seiner werthen Person war es, Direction, Regie, Mitglieder und sich selbst in das stolze „Wir“ zusammenzufassen.

„Dawison kommt gastiren!“ rief also Fritze. Aber nicht so bald hatte er es gerufen, als er auch schon eine meiner guten Cigarren erblickt und a tempo annectirt hatte. Dieselbe mit Wohlbehagen in Brand setzend, fügte er hinzu:

„Wir sind sehr neugierig, was er ist und was er machen wird!“

„Gastirt er hier zum ersten Male?“ fragte ich.

Oui. Wir sind, wie gesagt, sehr neugierig. Wir werden wieder ’ne Masse Scheererei haben. Kennen das, mit die Gäste. Uns können sie eigentlich gestohlen werden. Aerger und Arbeit – und wenn’s daran geht, das Abschiedsdouceur zu zahlen, sind sie fast alle die höheren Knicker. Voriges Jahr, die Seebach, denken Sie sich, sechsmal hat sie gespielt und dann einen Thaler Abschiedshonorar! Fauler Zauber mit die Gäste!“ Damit war Fritze schon wieder zur Thür hinaus.

Also „Dawison kommt gastiren!“ Ich war gespannt darauf. Ich hatte ihn vor drei Jahren gesehen, als ich noch nicht zu Thaliens Jüngern zählte, und war in jeder Weise begierig, mein Urtheil über ihn zu erweitern und festzustellen. Das Gastspiel so berühmter Großen ist für das Publicum und die Schauspieler immerhin ein gewisses Ereigniß. Ich fand mich eine Viertelstunde vor Beginn der Probe auf der Bühne ein. Es überraschte mich nicht, das ganze Personal mit einer gewissen Feierlichkeit in der Haltung bereits versammelt zu finden. Namentlich die Damen schienen den letzten „Bazar“ und die Toiletten-Chemie des Dr. Ruß zu ihrem Vortheile ganz besonders ernst studirt zu haben.

Der Erwartete kam pünktlich und die sauersüße Amtspflicht des Regisseurs, das „Vorstellen“ begann. Es ist wirklich lohnend einer solchen Ceremonie beizuwohnen, unwillkürlich wird man heiter gestimmt. Zwanzig, dreißig Menschen stehen im feierlichen Halbkreise. An der Seite des Regisseurs tritt der zu Folternde in die Oeffnung dieses Halbkreises.

„Herr Dawison!“ begann der Regisseur mit allem ihm zu Gebote stehenden heiligen Ernste.

Allgemeine Verbeugung – die Damen nach unten, die Herren vornüber.

„Herr Schulze!“

Verbeugung des Genannten und des Gastes.

Und so ging es zwanzig- bis dreißigmal, von Schulze zu Meier etc., fort. Man kann aber regelmäßig die Bemerkung machen, daß beim sechsten bis zehnten Namen schon die Verbeugungen des berühmten Opfers weniger kunstgerecht ausfallen. Ein allgemeines „Ah“ der Befriedigung ertönt, wenn die der Göttin Convenienz dargebrachte Huldigung vorüber ist. Gewöhnlich war sie von so gutem Erfolge, daß der Gast in der nächsten Minute schon um den Namen dessen bitten muß, der mit ihm die erste Scene spielt.

In rein äußerlicher Beziehung hatte die Persönlichkeit Dawison’s wohl nichts eigentlich Bedeutendes. Die mittelgroße Figur hatte an und für sich nichts Imponirendes, nichts den großen Tragöden Kennzeichnendes, und auch die Haltung des Körpers verhalf dazu nicht. Fremdartig berührte der eigenthümliche, nasale Ton der Sprechweise. Bei einer ersten Probe mit ihm zum großen Theile unbekannten Collegen hielt Dawison an sich und seine sonst so oft über die Stränge schlagende nervöse Reizbarkeit hatte noch kein Terrain. Der aufmerksame Beobachter aber sah es in seinem nur anscheinend ruhigen Auge zucken und blitzen und fühlte, daß er einen Organismus vor sich habe, dem es Bedürfniß war, sich ziemlich oft in elektrisch-magnetischen Gewittern zu entladen.

Dawison sollte zuerst als Franz von Moor in den Schiller’schen Räubern spielen. Mir war darin die Rolle des Hermann zugetheilt. Die Probe begann. Dawison konnte, wenn er wollte, hinreißend liebenswürdig sein und schien heute seinen guten Tag zu haben. Bekanntlich hat Hermann eine längere Scene mit Franz von Moor, die mit des Ersteren Worten schließt: „Das Geheimniß liegt im Papier und meine Erben brechen es auf.“

Eine auf Tradition beruhende Nüance ist es nun, daß Hermann, dem hinterlistigen Franz mißtrauend, langsam und rückwärts nach der mittlern Eingangsthür schreitet, seinen Gegner fest im Auge behaltend. Im Moment, wo er die Thür zu öffnen sucht, ergreift Franz blitzschnell ein Pistol und schlägt auf Hermann an. Dieser aber, der seinen Spiegelberg kennt, hat ebenfalls blitzschnell ein Pistol aus dem Wamms gerissen, und Beide stehen sich einen Augenblick im Anschlage gegenüber. Franz, der sich erkannt sieht, läßt nun sein Pistol sinken und winkt Hermann mit abgewandtem Gesicht, ihn zu verlassen. Wie gesagt, es ist das eine Traditionsnüance. Sie ist dankbar für beide Darsteller und giebt der Scene einen charakteristischen Abschluß. Aus diesem Grunde markirte ich sie auch in der Probe.

„Nein, nein!“ fuhr Dawison plötzlich los, „das geht nicht, das müssen Sie unterlassen!“

„Was muß ich unterlassen?“ fragte ich ruhig.

Sehen Sie, ich will Ihren Abgang so haben: Sie gehen langsam, aber nicht rückwärts zur Thür und gehen ruhig durch dieselbe ab. Sie bekümmern sich dabei gar nicht um mich, das Spiel mit dem Pistol habe ich allein.“

„Erlauben Sie mir darauf nur eine Bemerkung. Ein Charakter wie Hermann wird sicher nicht durch diesen sorglos ruhigen Abgang seinem Gegner die Gelegenheit bieten, ihn durch einen wohlgezielten Schuß hinterrücks wegzuputzen.“

Dawison’s Auge blitzte, sein Mund zuckte nervös.

„Sie haben wohl Lust, mir eine dramaturgische Vorlesung zu halten?“ höhnte er.

„Nichts weniger als das, aber –“

„Genug! Ich ersuche Sie, diese Nüance zu unterlassen. Sie stört mich. Ich wünsche es,“ fügte er etwas ruhiger hinzu.

„Ihrem Wunsche füge ich mich!“

Dieser kleine Wortwechsel hatte natürlich ringsum die größte Aufregung erzeugt. Der hohen Regie schien ihr wohlgepolsterter Stuhl zu einem Rost à la Peter Arbues geworden zu sein, so unruhige Actionen ließ sie auf demselben stattfinden. Aus jeder Coulissengasse beleuchteten staunende, hämische und neugierige Augen dies kurze Intermezzo.

Die Probe war zu Ende. Eine Anzahl Collegen vereinigte sich allmittäglich um die Table d’hôte unseres Theaterrestaurants. Mein Rencontre mit „Bogumil“ bildete hauptsächlich den Unterhaltungsstoff. Die Sache wurde in der verschiedensten Art erläutert. Mir war das unangenehm.

„Ich glaube, ich war im Recht,“ sagte ich.

„Gewiß,“ meinte unser Charakterspieler. „Aber wozu sich einer Demüthigung aussetzen, wenn man vorher wissen muß, daß Einem nur ein pater peccavi übrig bleibt.“

„Im Unrecht war Dawison jedenfalls,“ mischte sich ein anderer College in’s Gespräch; „er wünscht diesen saft- und kraftlosen Abgang des Hermann nur, damit Jener nicht Gelegenheit habe, besondere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen oder gar Beifall zu erringen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 709. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_709.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)