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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


geschehen, daß sie sich erlaubt hatte, ihrem ungerechten Grolle Ausdruck zu geben.

Alle diese Gedanken arbeiteten in ihrem Kopfe, als sie langsam dem Hause zuschritt. In dem unseligen Zwiespalte ihrer Gefühle drängte es sie, ihre Arme um den Hals Helenens zu schlingen und sie um Verzeihung zu bitten wegen ihrer gestrigen Heftigkeit. Dann aber fiel ihr ein, daß Doctor Simonis – wenn sie diesen Namen leise für sich aussprach, gab sie ihm stets einen andern Klang, als wenn es vor Andern geschah, und sie pflegte in diesem Falle vorher stets eine Pause eintreten zu lassen, und ihn dann auszusprechen, als fasse sie ihn mit Zangen an – es fiel ihr ein, daß Doctor Simonis Helene gegenüber Aufmerksamkeit und achtungsvollste Höflichkeit bewiesen, während er sich gegen sie selbst spöttisch und herausfordernd, ja, geradezu unhöflich gezeigt hatte, und bei diesem Gedanken erhielt der Geist des Trotzes wieder Oberhand in ihrem Köpfchen. So geschah es, daß sie mit umwölkter Stirn und finsterem Blicke vor ihrer Mutter erschien, während es nur eines Hauches bedurft hätte, sie mit Reuethränen zu deren Füßen zu führen. Bei ihrem Eintritte blickte Frau Helene von einem Briefe auf, in welchem sie eben gelesen. Sie erwiderte ihrer Tochter kühlen Morgengruß mit einem Neigen des Hauptes und sagte dann:

„Ich habe soeben einen Brief von meiner Mutter erhalten; sie meldet ihren Besuch auf morgen an und gedenkt bis zum Schlusse der Badesaison hier zu bleiben. Dann macht sie den Vorschlag, Dich im Herbste mit nach Berlin zu nehmen, um Dich dort einige Wintervergnügungen genießen zu lassen. Bis jetzt habe ich eine Trennung von Dir stets zurückgewiesen, allein in letzter Zeit habe ich einsehen gelernt, daß es das Beste sein dürfte, wenn Du für einige Zeit in ein andres Haus einträtest. Vielleicht wird ein zeitweiliges Entbehren der Heimath Dich deren Vorzüge besser erkennen lassen, wenn Du zurückkehrst.“

Die junge Frau hatte in ihrer gewöhnlichen ruhigen, milden Weise gesprochen. Sie hatte den Vorschlag der Trennung nicht etwa in der Absicht gethan, eine Verbannungsstrafe über die Schuldige zu verhängen, sondern in der richtigen Erkenntniß der Thatsache, daß Rosa aus ihr unbekannten Gründen der Aufenthalt in ihrem Hause weder angenehm noch dienlich sei – dennoch aber wirkten ihre Worte auf Rosa wie eine ihr angethane schwere Beleidigung. Ihre Lippen zuckten; sie schüttelte mit einer trotzigen Bewegung des Hauptes ihre Haare zurück und nahm schweigend ihren Platz am Frühstückstische ihrer Mutter gegenüber ein. Erst als sie nach beendeter Mahlzeit in ihr Zimmer gegangen war und ihren Hut vor dem Spiegel aufsetzte, um zum Baden zu gehen, erlaubte sie sich die Erleichterung der Thränen. Der Gedanke, von dem lieben Hause scheiden, die Menschen, die ihr die liebsten waren, Monate lang nicht sehen zu sollen, von dem kleinen Felix sich trennen zu müssen – dieser Gedanke war so bitter, daß sich ihr Schmerz in einem leidenschaftlichen Ausbruche kund that. Aber schnell faßte sie sich wieder. Niemand sollte sagen, daß sie leide, Niemand ahnen, daß ihr eine Trennung schwer fallen würde.

„Sie verdienen es nicht, daß ich sie liebe,“ sagte sie trotzig, während sie die Stufen zum Damenbade hinabstieg, „denn sie Alle sind Heuchler. Alle hintergehen mich und glauben, ich sei so einfältig, sie nicht zu durchschauen. Es ist lange schon beschlossene Sache gewesen, mich aus dem Hause zu entfernen – ich habe das schon lange geahnt. Ich will ihnen nicht zur Last fallen; ich will gehen und sie von meiner Gegenwart befreien. Aber nicht dahin, wohin sie mich schicken, werde ich gehen – nicht in das Haus jener Frau, die ich verabscheue – zu fremden Menschen will ich meine Zuflucht nehmen. O, daß ich sie Alle vergessen könnte, daß ich im Stande wäre, die Liebe zu ihnen aus meinem Herzen zu reißen!

Die Wehmuth übermannte sie wieder, und sie mußte sich abwenden, ihre feucht gewordenen Augen zu trocknen. Dann aber faßte sie sich gewaltsam. War das die Art, wie sie sich benehmen mußte, um alle Welt an ihre ungetrübte Heiterkeit, an ihr ungestörtes Glück glauben zu machen? – Noch einen Augenblick brauchte sie, um sich zu sammeln, dann sprang sie leichtfüßig die Stufen hinab und langte mit einem Jauchzen, von welchem keine der bereits versammelten Damen vermuthet hätte, daß es aus einer schmerzbewegten Brust kam, unten am Strande an.

„Welch' ein Bad werden wir heute haben!“ rief sie jubelnd aus, indem sie so dicht an die Fluth herantrat, daß der Schaum der brandenden Wellen ihre Füße und den Saum ihres Morgenkleides benetzte. „Welch' ein Bad! Das erste wahrhaft schöne in diesem Jahre. Warum aber stehn sie Alle noch so zweifelhaft da? Hat noch Niemand den Muth gehabt, als Erste das Bad zu beginnen? Nur einen Augenblick Geduld – ich werde sogleich bereit sein.“

Sie eilte in leichten Sprüngen über den Sand hin und verschwand hinter der Thür der Bretterbude, die von ihr und Helene zum An- und Ablegen der Badekleider benutzt wurde. Einige Augenblicke später erschien auch diese unten am Strande.

„Die See geht noch ungewöhnlich hoch; ich habe nicht erwartet, daß heute das Bad gestattet sein würde,“ sagte sie zu einer der harrenden Badefrauen.

„Innerhalb der Barrière ist der Grund untersucht und ganz sicher befunden worden,“ lautete die Antwort. „Es ist demnach keine Gefahr zu befürchten, wenn sich die Damen nicht zu weit hineinwagen.“

Trotz dieser Versicherung war die Meinung der Anwesenden getheilt. Einige faßten Muth und erklärten, sich fertig machen zu wollen, um Fräulein von Malwitz in die See zu folgen. Andere dagegen riethen von diesem Vorsatze ab und meinten, daß nur einer so geübten Schwimmerin, wie Rosa, heute das Bad gestattet sein sollte. So kam es, daß, als diese im Schwimmcostüm, wie ein kecker, junger Matrose aussehend, erschien, die Schaar der Badelustigen und Badebereiten nur sehr klein war und daß selbst von diesen die Meisten erklärten, noch abwarten zu wollen, mit welchem Erfolge Rosa gegen die Wogen kämpfen würde, ehe sie selbst das Wagniß beginnen wollten.

„Die Wellen rollen heute schwer vom Strande zurück; sie werden Dich gewaltsam seewärts ziehen,“ sagte Helene warnend.

„Wer Angst hat, mag doch hübsch im Trocknen bleiben!“ entgegnete Rosa mit leichtem Hohn.

„Du solltest Dir wenigstens den Gürtel mit der Leine anlegen lassen,“ rieth Helene.

„Ich bedarf dessen nicht; ich bin meiner sicher,“ lautete die kühle Antwort.

„Bitte, nimm den Gürtel meinetwegen – mir zur Beruhigung!“

Die junge Frau hatte sanft und dringlich gesprochen und war Rosa währenddessen leise näher getreten. Diese wandte sich jäh und heftig zu ihr um.

„Bemühe Dich nicht, eine Besorgniß zu heucheln, die Dir nicht von Herzen kommt!“ sagte sie leisen Tones, aber mit blitzenden Augen. „Es gelingt Dir doch nicht, mir die Ueberzeugung zu nehmen, daß die See Dir einen dankenswerthen Dienst leisten würde, wenn sie Dir den bösen Schein ersparte, mich bei fremden Leuten ein Unterkommen suchen zu lassen. Ich rathe Dir übrigens, hier nicht länger zu verweilen – der Doctor wird wahrscheinlich um diese Zeit seinen Besuch bei Felix machen – bitte, versäume denselben meinetwegen nicht!“

Sie wartete eine Entgegnung nicht ab, sondern sprang mit lautem Lachen, dem ein feines Ohr das Erzwungene wohl anmerken konnte, von ihr hinweg.

Helene blieb einen Augenblick regungslos stehen. Dahin war es also gekommen. Rosa hatte jedes Verständniß, jede Erinnerung für bewiesene Liebe und Güte verloren. Sie fühlte sich durch diese Wahrnehmung anfangs lief niedergebeugt, dann aber ging jeder andere Gedanke in dem Mitleid unter, das der Anblick des jungen Mädchens ihr einflößte. Mit einer Lustigkeit, die den Jammer ihres Herzens vor Helenens Augen nicht verbergen konnte, machte Rosa sich eben bereit, ganz allein, ohne Gefährtin zu baden. Sie wandte sich noch einmal um, die Zurückbleibenden der Feigheit und Treulosigkeit anzuklagen und sie in scherzhaft pathetischem Tone zu Reue und Besserung zu vermahnen. Ihre Worte hatten einen unerhofften Erfolg. Noch im letzten Augenblick gesellte sich ihr eine Gefährtin zu, die Tochter einer befreundeten Familie, Rosa's liebste Gespielin von frühester Kindheit an. Helene sah noch, wie beide geübte Schwimmerinnen sich rücklings einer eben heranbrausenden Welle entgegenwarfen und neben einander aus den Fluthen wieder auftauchten, dann wandte sie sich zum Gehen, da für ihren Geschmack und ihre Fertigkeit die Wellen heute zu hoch gingen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 107. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_107.jpg&oldid=- (Version vom 17.7.2018)