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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

unter ihm knicken und brechen Aeste, Wipfel und Stämmchen zu Hunderttausenden, sodaß junge Bestände nach der Schneeschmelze den Eindruck machen, als seien Straßenwalzen darüber hingegangen. Die Schneestürme, die namentlich gern des Nachts von dem Gebirgssattel zwischen Keil- und Fichtelberg mit rasender Gewalt hereinbrechen, sind, so wild sie sich auch geberden mögen, immer noch willkommenere Gäste, als jener stille Schleicher mit seinen gefälligen Manieren, selbst wenn sie den Schnee tagelang in horizontaler Richtung durch die Gassen treiben und in den Schornsteinen und über die Dächer hinheulen, daß dem abgehärtetsten Gebirgler im Herzen bange wird. Nach einer solchen richtigen Schneesturm-Nacht gewährt die Stadt zuweilen einen ganz seltsamen Anblick. Die Häuser tragen buchstäblich Schneemäntel. Wo nur der geringste Vorsprung Anhalt gab, bildeten sich, durch den Druck des Sturmes verdichtet, weiße, frostige Hüllen an den Wänden; die nicht verschütteten Fenster haben sich ganz hinter krystallenen Jalousien verhüllt, und selbst die Geschäftsfirmen an den Häusern zeigen sich weiß verhängt. Freilich dauert die Herrlichkeit dieser Hermelindraperien nicht lange; sobald der Druck nachläßt, blättern die Hüllen von den Wänden herab, wie die Spähne auf den Zimmerplätzen. Ein ganz unbeschreiblich schönes, seltsames Bild gewährt es aber, wenn in der Nacht der Sturm plötzlich schweigt, der Nachthimmel sich aufheitert, das Mondlicht über die erstarrten fremdartigen Gebilde seine magischen Schatten hinwirft und die flimmernden Gestirne in den Myriaden von Eiskrystallen sich widerspiegeln, sodaß die Schneeflächen aufleuchten, als hätte man Millionen von Diamanten über sie ausgesäet.

Oft aber geschieht es auch, daß durch einen Schneesturm in wenig Stunden die Straßen der Stadt halb verschüttet und unpassirbar gemacht werden; die Insassen ganzer Häuserreihen sind eingekerkert, die Zimmer in den Erdgeschossen finster wie Kellerräume. Man gräbt sich heraus oder benutzt wohl gar Fenster in den oberen Stockwerken als Hausthüren. Die alten Bestände der benachbarten Forste geben dann das seltsame Bild eines Waldes von riesengroßen Korallen, und die jüngeren, die zumeist ganz verschüttet sind, erscheinen wie ein im Sturm erstarrtes Meer; jedes Bäumchen stellt den unsichtbaren Träger einer Woge dar, dabei zeigt sich der Schnee von einer Weiße, wie sie der Städter im Tiefland nie, der Dörfler aber nur bei frischem Schneefall und strenger Kälte zu schauen bekommt; die leiseste Wirkung der Sonne nimmt ihm ja den Schmelz.

Die nunmehrigen Verkehrsbahnen außerhalb der Stadt haben mit den Richtungen der alten Straßen, soweit diese nicht ausgeschaufelt werden können, gar nichts zu thun, und häufig geschieht’s, daß ein Schlittengaul über die Wipfelzweige einer Eberesche strauchelt, auf der vor Wochen noch der Staar sein Lied gepfiffen. Für den Stadtverkehr haben diese starken Schneefälle die Schöpfung einer ganz eigenartigen Wintergarnison, der sogenannten „Trampelgarde“, zur Folge gehabt. Sie besteht meist aus Arbeitern, die ihrer gewohnten Beschäftigung des Schnees wegen nicht nachgehen können. Nach mäßigerem Schneewetter lassen sie ihre Waffe, die Schippe (Schaufel), ruhen, formiren sich zu enggeschlossenen Colonnen und „trampeln“ Bahn durch die frischgefallene Schneedecke; dabei sagen die weidlich behandschuhten und bestiefelten Trampler gleich den Zimmerleuten beim Pfahlrammen einen Tactspruch her, der kurz und bündig lautet:

„Tritt für Tritt,
Der Orz geht mit.“

Rührend ist es anzusehen, wenn sie vor einzelne Häuser ziehen, in denen sie Schulkinder wissen, sie nehmen dann die kleinsten davon auf den Arm und tragen sie, unbeschadet des Trampeldienstes, nach dem Schulhause. Bei großen Schneefällen müssen die Gassen ausgeschaufelt werden, und nach schweren Stürmen wird der Trampelgardist nicht selten zum Bergmann; sobald der Tagebau unmöglich geworden, legt er Schneezechen an, wie unser Bild eine solche zeigt.

Der Winter macht gesellig auch im Unterlande, wie viel mehr aber drängt ein solcher Winter den Bewohnern des Obergebirges diese Tugend auf! Hantirungen im Freien sind nicht möglich; der Verkehr stockt, und wer mit dem Walde zu schaffen hat, ist ganz auf das Haus angewiesen, denn die Waldwege sind monatelang unpassirbar. Wohl stehen dann die Grünröcke oft unruhig an den Fenstern, durchhauchen die Eisblumen, schauen hinaus in die verschneiten Forste und gedenken seufzend des Wildes, das sie in besseren Tagen gehegt und geschützt und das nun nach den tieferen Revieren ausgetreten, um sich dort vom ersten besten Sonntagsjäger todtschießen zu lassen, oder sie tragen schwere Bekümmerniß um die grünen, schlankstämmigen Pfleglinge draußen im Walde, die sie unter ungeheuerem Schneedruck duldend wissen und die sie wahrscheinlich im Frühling als eine Armee von Krüppeln wiedersehen werden.

Wie die Honoratioren in kleinen Städten ihre Zeit verbringen, das ist schon oft geschildert worden; wir brauchen uns, um ein Bild der Wiesenthaler vornehmen Welt zu haben, nur noch die erzgebirgische Offenheit, Treuherzigkeit und einen gewissen weltbürgerlichen Freimuth hinzuzudenken, so haben wir die rechte Vorstellung gewonnen; der Gebildete weiß ja überall je nach dem Maße seiner Veranlagung ein Eden in ein Kamtschatka und ein Kamtschatka in ein Eden umzuwandeln. Geselliger drängen sich aber auch die Leute aus dem Volk in den strengen Wintertagen zusammen um die behaglichen Oefen in den halbdunklen, schneeverschütteten Zimmern. Wie oft hat man schon die Obererzgebirgler beklagt, daß sie zu mehreren Familien in einem Zimmer wohnen müssen! Es ist das erst in zweiter Linie eine Folge der Dürftigkeit, hat doch z. B. Wiesenthal für seine 2000 Einwohner Räume zur vollen Genüge, und die Stadt erscheint für diese Zahl eher häuserreich als häuserarm.

In erster Linie ist es wohl der Drang nach Geselligkeit, und dann erst kommt der wirthschaftliche Vortheil der gemeinschaftlichen Feuerung in Frage. Nur getrennt durch einen Kreidestrich auf der Diele „hüfern“ sie sich an einander, Männlein und Weiblein, und plaudern, singen, lachen und arbeiten und schlagen so dem unfreundlichen Gesellen draußen ein Schnippchen, so wild er auch durch die Schornsteine heulen und an den Fensterladen rütteln mag. Aus allen Winkeln ertönt das eigenthümliche Geräusch des Klöppelns. Wie ein Waldbächlein, das über sein Kieselbett lebendig dahinfließt, rauscht das leise Geklapper von zehn, fünfzehn Klöpplerinnen zusammen. Die Männer sitzen am Posamentirstuhl oder fertigen Stecknadeln nach Urväterweise; dabei erzählt man sich häufig traditionelle Gruselgeschichten, die stets mit der unfreundlichen Natur des Obererzgebirges in Zusammenhang stehen und ihren lieblosen Charakter wiederspiegeln. Gesungen wird fast ausschließlich das heitere Genre der Volksdichtung, und wenn ein Lied auch nicht sonderlich heiteren Inhaltes ist, so bricht man doch regelmäßig am Schluß des Gesanges in ein helles Gelächter aus, in das die Matronen ebenso lebhaft wie die fünfjährigen Weltbürgerinnen einstimmen, welche mit ihren kleinen täppischen Händen die Klöppelhölzer gar anmuthig durch einander werfen. Und bei all diesem hellen Vergnügen hinter den Eisblumen der Fenster läßt man keine Minute ungenützt verstreichen. Welchen Werth hier die Zeit hat, das beweisen die Antworten, die dem Fremden zu Theil werden, wenn er nach Verdienst und Arbeitsquantum fragt.

„Wenn ich net an den Ofen muß,“ spricht die Frau, und der Mann: „Wenn ich mei’ Pfeif’ net anbrenne muß, do breng ich in der Stunn das und das.“

Man sieht, die Leutchen haben ihre Leistungskraft nach Secunden berechnet.

Der Wiesenthaler weiß dem Feind aller Orten zu begegnen. Der Unbill des Wetters setzt er seinen natürlichen Frohmuth entgegen; die Lust an der Arbeit ist sein Vergnügen; der kargen Natur begegnet er mit einer rührenden Genügsamkeit; den Druck der Verhältnisse, der sonst so viel Bitterkeit in die Menschenseele wirft, besiegt er durch ein sorgloses Herz, das ihm die Bedürfnißlosigkeit geschenkt. Man darf dreist behaupten, daß hinter dem Wiesenthaler, wenn er in seinen Friedhof eingeht, die gleich große, wenn nicht eine größere Summe von Freuden liegt, wie hinter dem reichgesegneten Tiefländer, den man pomphaft zur Erde bestattet. Möge er sich seinen unbewußten Idealismus für alle Zeiten bewahren! Er hat ihn auf seiner rauhen Höhe nöthig. – Nicht in dem, was ihm seine Scholle giebt, sondern in dem, was er ihr entgegen bringt, liegt sein Glück und seine Wohlfahrt.

Gampe.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 184. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_184.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)