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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)


der Geister nach dem Todesschlafe der Reactionsepoche und die schwere Krisis des amerikanischen Secessionskrieges eine mächtige Bewegung durch die europäische Arbeiterwelt zittern ließen, ward alsbald offenbar, daß es die deutsche Erde ist, auf welcher dieser gewaltige Kampf um die höchsten Güter der Menschheit seine entscheidenden Schlachten schlagen wird.




Marpingen – wie Wunder entstehen und vergehen. Ein Culturbild aus der Gegenwart von Fridolin Hoffmann.
II. Der Kern der Erscheinung.


Die Zuchtpolizeikammer in Saarbrücken hatte bei dem sogenannten Marpinger Proceß selbstverständlich ihr Hauptaugenmerk nur darauf zu richten, ob diejenigen, welche für die angeblichen Wundererscheinungen Propaganda gemacht, in gutem Glauben gehandelt, oder mit Vorsatz unerlaubte Zwecke dabei verfolgt hatten. Die Untersuchung über die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit solcher wunderbaren Vorgänge im Allgemeinen oder speciell über ihr Geschehensein in Marpingen lag außerhalb der Aufgabe des Strafrichters. Von den an die Marpinger Wunder Glaubenden mag es aber mit rechtem Verdruß empfunden worden sein, daß ein junger Jurist, der Landgerichtsassessor Dr. Strauß, welchem auf eigenen Wunsch ein Theil des Inquisitoriums bei den drei begnadigten Kindern vom Untersuchungsrichter commissarisch übertragen worden war, eingestandenermaßen mit dem vollen Glauben an die Möglichkeit solcher himmlischer Kundgebungen nicht nur, sondern mit halbem Glauben an die Wirklichkeit im speciellen Falle an das Verhör herangetreten ist und dennoch die mitgebrachte günstige Meinung für die Aussagen der Mädchen bald verloren hat. Vor Gericht sprach er seine Ueberzeugung dahin aus: Der Kern der ganzen Sache sei eitel Trug und Lüge. Dr. Strauß ist, um dies hier einzuschalten, in der Marpingen-Saarbrücker Gegend geboren, theilweise von dortigen Geistlichen vorgebildet worden, und hat mit den meisten derselben bis zur Stunde einen freundschaftlichen Verkehr unterhalten. Einen unverdächtigeren Zeugen kann also auch der wunderseligste Katholik nicht verlangen.

Der Marpinger Schwindel begann bekanntlich am 3. Juli 1876, demselben Tage, an dem zu Lourdes die dortige Marien-Statue unter Anwesenheit von sechsunddreißig Bischöfen und zahlreichen Pilgern feierlich gekrönt wurde; von dieser bevorstehenden Feier war begreiflicher Weise schon vorher unter den rheinisch-westfälischen Katholiken, die ja auch ihr Contingent zu den Theilnehmern an derselben stellten, viel die Rede. Am 13. Juli schon rückte, um dem Besuche des Gnadenortes und damit der Ausbreitung des Schwindels zu wehren, Militär in Marpingen ein, und da dieses von der Bevölkerung nicht allzu freundlich empfangen wurde, also wohl schlimmere Widersetzlichkeiten noch zu befürchten standen, legte sich auch die Justizbehörde in’s Mittel. Am 9. November wurden die Kinder, die vorher schon durch einen am 1. October von Berlin gekommenen Criminalcommissar, Herrn von Meerscheidt-Hüllessem, verhört worden waren und vor diesem ihre wunderbarlichen Aussagen Stück für Stück widerrufen hatten, auf Beschluß des Vormundschaftsgerichts in die Prinz-Wilhelm-Mariannen-Bewahranstalt zu Saarbrücken untergebracht. Von hier kamen sie, wie wir schon gleich bemerken wollen, in ein klösterliches Erziehungshaus zu Echternach, dem durch seine närrische Springprocession am Pfingstdienstag weltberüchtigten Wallfahrtsort im Luxemburgischen, wo sie sich zur Stunde noch befinden. Am 29. November reiste Dr. Strauß mit der Margarethe Kunz, um die Wunderstätte in ihrer Gegenwart zu besichtigen, nach Marpingen, und brachte sie am zweiten Tage in die genannte, unter einem protestantischen Hausvater stehende Anstalt nach Saarbrücken zurück. Die mehrfach Genannte ist das jüngste der sämmtlich im Jahre 1868 geborenen Wunderkinder, aber auch das geweckteste und nach Allem, was jetzt vorliegt, die Anstifterin des ganzen Handels. Auf seinem Excurse mit Margarethe begann Dr. Strauß, nachdem er sich mit der Kleinen vertraut gemacht hatte, sein Inquisitorium, und sein Bericht darüber möge hier als besonders charakteristisch in ausführlicher Form Platz finden.

„Ich bin die unbefleckt Empfangene“ – sollte, wie man sich erinnert, die Erscheinung auf die Frage der Kinder geantwortet haben. „Die Kunz,“ so berichtet nun Dr. Strauß, „verneinte, zu wissen, was ‚Unbefleckte Empfängniß’ sei; dieses Wort habe sie einmal von einem Mädchen gehört oder in einem Gebetbuche gelesen. Nach einigem Umfragen aus anderen Schulfächern kam ich auf die Erscheinung. Nun erzählte sie:

‚Am 3. Juli sah ich im Härtel-Walde beim Heidelbeerpflücken einen weißen Schein, einer menschlichen Gestalt ähnlich. Sie war sitzend; die linke Hand hing herunter; die rechte lag auf der Brust. Es war wie ein Muttergottesbild. Erschreckt lief ich nach Hause und erzählte es meinen Eltern, die mir nicht glauben wollten. Als ich einmal vor die Thür trat, kam ein Mädchen zu mir und fragte mich, ob wir etwas gesehen hätten; andern Tags sollten wir wieder in den Wald gehen und sagen: wir hätten etwas gesehen und die Erscheinung habe gesagt, es solle eine Capelle gebaut und gebetet werden; wir brauchten das nicht umsonst zu thun. Auf die Frage, was wir bekämen, sagte das Mädchen: „Ja, Ihr kriegt was.“ Dieses Mädchen wohnt im Eulenwald in Marpingen; es trug eine Jacke. So wahr ist das, was ich Ihnen gesagt,’ fügte sie hinzu, ‚daß, wenn der liebe Herrgott selber vor mir stände, ich dasselbe sagen würde.’

Dann erzählte sie weiter:

,Ich ging zum zweiten Mal in den Wald, stellte Fragen, erhielt aber keine Antwort, erzählte aber doch ganz so, wie das Mädchen mir gesagt hatte. Am dritten Tage bin ich wieder hingegangen, am vierten noch einmal, bis die Soldaten kamen; da hab’ ich nichts mehr gesehen.'

Hiernach bat mich das Mädchen, von diesen Bekenntnissen seiner Mutter und dem Pastor Neureuter keine Mittheilung zu machen, denn ‚die würden sonst böse’. Als ich bei der Ankunft in Marpingen am 30. November der Mutter der Margarethe sagte, sie sei von ihrem Kinde getäuscht worden, gerieth diese in convulsivisches Zucken, schlug sich an die Stirn und rief:

,Wenn das wäre, so ist sie mein Kind nicht mehr, aber es kann nicht sein.’

Nachdem ich die Frau beruhigt hatte, forderte ich das herbeigerufene Mädchen auf, nun auch seiner Mutter zu erzählen, was es mir erzählt habe. Da barg es sich an dem Kleide der Mutter und wollte kein Wort sprechen. Ich verlangte dann Antwort über jeden einzelnen Punkt des am Tage vorher gemachten Geständnisses. Auf jede meiner Fragen nickte das Mädchen ganz deutlich, wurde aber dabei fortwährend von der Mutter mit heftigen Schmerzensausrufen unterbrochen.

,Ich will nichts mehr von Dir wissen,’ stöhnte Frau Kunz; ‚wenn Du mich und alle Welt so belogen hast, bist Du mir fremd. – Ist’s denn wirklich wahr, was Du dem Doctor gesagt hast?’

Und die Antwort war: ‚Nein, es ist nicht wahr.’

Ich stand wie versteint angesichts dieser Zweizüngigkeit, sagte aber nichts mehr, als zu dem Kinde: nun sei es offenbar, daß man ihm nichts glauben könne. Ich ging hierauf mit Mutter und Kind in den Wald, um die Oertlichkeit zu besehen. Ohne die mindeste Scham und Scheu, und ohne daß sie meinerseits eine Einwendung erfuhr, erzählte Margarethe ihre alten vor mir widerrufenen Geschichten.

,So,’ sagte ich ihr, ‚jetzt muß ich mit Dir nach dem Eulenwald gehen, wo das Mädchen war.’

Da antwortete die Achtjährige mit einem gewissen impertinenten Aplomb:

‚Da brauchen Sie auch noch hinzugehen! Das war ja Alles erlogen.’

So kehrte ich mit ihr nach Saarbrücken zurück.“

Wir schließen hieran die Mitteilung einer späteren Unterredung, die Dr. Strauß am 6. December im Mariannen-Institut mit der Margarethe hatte, weil sie eine nothwendige Ergänzung zu dem Vorstehenden bildet; denn nun gestand sie wieder, daß alle Antworten, welche sie auf ihre Fragen an die Muttergottes erhalten habe, erlogen seien.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 284. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_284.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)