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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

an der Glocke riß. „Ein Betrunkener,“ dachte ich, „der in den dritten Stock gehört!“ und zog den Zipfel des Kissens fester über die Ohren. Da klingelte es noch einmal und noch einmal, immer heftiger. Scheltend erhob ich mich. Ein ärmlich gekleidetes Mädchen von etwa zweiundzwanzig Jahren stand vor der Thür, mit frischen rothen Backen.

„Entschuldigen Sie, Herr Doctor,“ sagte das Mädchen, „möchten Sie nicht einen Augenblick zu meiner Schwester kommen?“

„Zu wem?“

„Zu meiner Schwester.“

„Wo ist denn Ihre Schwester?“

„Wir wohnen im Parterre dieses Hauses.“

„So. Was will denn Ihre Schwester?“

„Ach, ich glaube, sie stirbt.“

Das ist freilich eine schlechte Beschäftigung, die man sich wohl überlegen soll – dachte ich und fand, von einem barbarischen Egoismus angekränkelt, wenig Reiz darin, aus der Behaglichkeit meines Schlummers an ein wildfremdes Sterbebett zu gehen, das mich gar nichts anging. Was hatte ich dort zu thun? Was sollte ich dort nützen?

Diese letztere Frage wiederholte ich laut.

„Kommen Sie nur mit, Herr Doctor,“ bat das Mädchen dringender. „Vielleicht können Sie doch noch etwas für meine Schwester thun. Sie selbst meint zwar, ihr könne kein Arzt mehr helfen, aber –“

Kein Arzt! Kein Arzt! Nun stand mit einem Male Alles mit erwünschtester Klarheit vor meiner Seele; nun wußte ich ganz genau, warum dieses unselige Mädchen gerade mich zu nachtschlafender Zeit an das Sterbebett seiner Schwester rufen wollte; nun wußte ich ganz bestimmt, was mich hier wieder einmal in eine recht peinliche und unangenehme Situation geworfen hatte, während ich in meinem süßen Himmelbett ungestört den Schlaf des Gerechtesten hätte schlafen können – und was dies war? Nichts Anderes als meine gottverwünschte Eitelkeit.

Arzt! Doctor! Ich, der ich nicht einmal das Eine, noch viel weniger das Andere war. Nicht einmal ein Doctor der Theologie, der mich doch wenigstens hier am Sterbebett noch hätte anständig herausbeißen können, wenn ich auch sonst im Leben nichts mit ihm anzufangen wußte. Aber natürlich, es mußte so kommen. Weil ich allwöchentlich so und so viele Briefe bekam, die meine bescheidene Persönlichkeit mit dem Doctortitel feierlich aufputzten, hielt mich dieser harmloseste aller Postboten der von dem Schwindel dieser Welt keine Ahnung hatte, auch wirklich für einen Doctor; weil ich alltäglich so und so viele Besuche empfing, die mich in dieser ehrerbietigen Weise anredeten, hielt mich die würdige Hausfrau für einen Doctor, und weil Postbote und Hausfrau die so wohlklingende Ansprache nun um die Wette an mich verschwendeten, hielt mich alle Welt und hielten mich auch diese armen Mädchen für einen Doctor.

Warum aber – offen gestanden – hatten mich jene nichtsnutzigen Schauspieler bei ihrem neulichen Besuche aus eigener Machtvollkommenheit promovirt? Weit sie gut recensirt zu sein wünschten. Und warum hatte mich sogar jener lumpige Kellner hartnäckig Doctor gescholten? Weil er auf ein gutes Trinkgeld rechnete. Und so hielten, wenn ich mir’s recht überlegte, Schauspieler wie Kellner offenbar es für eine große Schande, daß ich nicht einmal mit dem kleinsten aller Titel bekleidet, sondern so zu sagen noch in meiner ganzen adamitischen Natürlichkeit, in der ich auf diese titelreiche Welt vor vielen Jahren gekommen, noch immer auf derselben herumlief, und hatten mir aus falscher Höflichkeit und aus gemeinem Eigennutz die Schlinge der Eitelkeit um den Hals geworfen, daß ich nun in ihr zappelte wie ein Fisch, der nicht mehr aus dem Netze kann.

Mit diesen zwar zeitgemäßen und durch die Umstände entschuldigten, aber immerhin höchst verdrießlichen Betrachtungen im Kopfe wäre ich fast die Treppe hinuntergefallen.

„Hallo, gehen Sie doch langsamer mit dem Licht!“ rief ich ärgerlich und stolperte hinter meiner Führerin her, der ich allerdings kurz auseinander setzte, daß ich kein Arzt sei, deren nachträglichem Bitten aber, sie trotzdem nicht in dieser fürchterlichen Nacht allein zu lassen, ich zuletzt willfahrte.

Ehe ich mich’s versehen, stand ich in dem Wohnzimmer der beiden Mädchen; da sah es freilich traurig genug aus. Kahle Wände, die ihres bescheidenen Anstrichs im Sturm der Jahre schon längst verlustig gegangen waren, ein großer, langer, abgenutzter und von Messerschnitten heillos entstellter Tisch, der für das Feuer gerade gut war und auf welchem nun armselige Brodreste, Salz in zerrissenem Papier, zwei irdene Töpfe und ein blinder Blechlöffel zu sehen waren, davor eine wurmstichige Bank, darunter ein schwarzgrauer, schmutziger Fußboden – kein Stuhl, kein Schrank, kein Nagel, ringsum nur die größte Armuth, das tiefste Elend, das mich aus den finstern Ecken angähnte, und die jammervollste Noth, die hier ihren dunklen Schleier über alles Lebende gebreitet hatte. Und dort im anderen Zimmer der Tod!

Leise traten wir ein. Bei dem Halbdunkel, das uns umgab, sah ich eine weibliche Gestalt vor mir im ärmlichsten Bette liegen, bleich und mit eingesunkenen Wangen, um die das tiefschwarze Haar in aufgelösten Strähnen herunterfiel. Die großen, dunklen, fieberglühenden Augen hatte die Kranke starr in die Ferne gerichtet; ihre Brust hob und senkte sich rasch; aus den vertrockneten, halb geöffneten Lippen schien in schweren, hastigen Athemzügen das schwache Leben entfliehen zu wollen, und die langen mageren Hände zuckten krampfhaft bald sich öffnend, bald sich wieder zusammen ziehend, unruhig über die Decke hin.

Langes, angstvolles Schweigen eine schwer lastende Stille, die schon dem Grabe entstiegen zu sein schien und die das Röcheln der Kranken noch grauenvoller machte! Von dieser schien ich noch gar nicht bemerkt worden zu sein. Da fragte sie, ohne die Lage ihres Kopfes oder die Richtung ihres Blickes zu ändern:

„Warum hast Du diesen Herrn zu mir gebracht?“

„Es ist,“ antwortete die Schwester, „der Herr im Hause, den wir für einen Arzt gehalten haben.“

Dann holte sie, damit ich, wie sie sagte, das zuletzt verschriebene Recept des Arztes lesen könnte, das Licht aus dem Wohnzimmer herbei; sein rothglühender Schein fiel voll auf das bleiche Angesicht der Kranken – zu meinem Entsetzen, denn ich sah dasselbe Weib vor mir, das ich neulich im Traume gesehen, das mein Zimmer zu nächtlicher Zeit besucht, das die Hände so angstvoll gerungen hatte, das der Marmorbüste so sprechend ähnlich war – Klytia.

Ich war entsetzt, aber ich preßte bis zum Schmerze die Lippen zusammen – ich schwieg. Ich starrte nur auf die Gestalt vor mir mit der schmalen Stirn, in die das schwarze Haar so voll herein reichte, mit dem edlen Profil, das jetzt nur zu scharf und schneidend ausgebildet war, mit den großen Augen, die jetzt im Fieber der Krankheit brannten. Die Melancholie des Mundes war in einen heftigen Schmerz, in eine wilde Angst gesteigert, und die runden Wangen waren hohl und eingesunken – der große Verderber, der rastlose Mehrer der Gräber hatte seine Hand schon nach dem Opfer hier ausgestreckt, und die Fluth des Lebens, die einst so heiß und mächtig durch die Adern dieses Weibes gerauscht sein mochte, war im Begriff zu erstarren.

Die Schwester der Kranken war, ich weiß nicht, ob aus Erschöpfung oder aus Theilnahmlosigkeit, neben mir auf einen Stuhl gesunken. Das Sterben dort im Bett war grauenvoll. Das Mädchen hatte gewiß bessere Tage gesehen. Ihr Schicksal hatte sie verdammt, an der Stätte der Armuth den letzten schweren Kampf zu kämpfen; die Zärtlichkeit der Freunde und Freundinnen, die mit feuchtem Auge und küssendem Munde ihr hätte ein Trost sein können, war ihrem Lager fern geblieben, und Nichts umgab sie, als die Einsamkeit, die Fremde und eine Schaar geisterhafter Schatten aus vergangenen Tagen des Glückes und vielleicht der Reue, welche nur gekommen war, sie auf’s Blut zu quälen und zu peinigen. Vielleicht war ihr der Tod eine Erlösung aus Elend und Schande. Aber das war kein Ausklingen des Lebens – das war ein Zugrundegehen. Vielleicht sehnte sie sich nach dem Augenblick, da die Nacht des Todes über ihrem Haupte zusammenschlug. Aber auch der erbärmlichste Mensch läßt nicht vom Hoffen, und erst mit dem letzten Athemzug hört er auf zu glauben, daß gar Vieles von jetzt an anders und immer besser kommen würde, wenn nur die Frist dieses Lebens sich ihm noch verlängerte. Und diese Hoffnung ist nichts als der letzte traumhafte Rest jener Poesie, die jedem Menschen angeboren ist und die Keiner ganz verlieren kann, so tief er auch sinken mag.

Am nächsten Morgen ließ ich mich nach der Armen erkundigen. Sie lebte noch. Ich fragte meine Hausfrau, ob es denn nicht möglich gewesen sei, der so schwer Kranken eine bessere Lagerstätte zu verschaffen. Frau Huber sagte, daß der Armenverein

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 474. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_474.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)