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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

No. 20.   1883.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis Bogen. 0 Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


Alle Rechte vorbehalten.

Gebannt und erlöst.

Von E. Werner.
(Fortsetzung.)


Justizrath Freising hatte sich in sein altgewohntes Geschick gefunden und trug den fünften der Körbe mit derselben Würde, wie die vier vorhergehenden. Augenblicklich war er überdies von einem Interesse in Anspruch genommen, das bei ihm alle Körbe der Welt in den Hintergrund drängte.

Fräulein Hofer hatte nicht so unrecht, wenn sie behauptete, der Justizrath hege eine förmliche Leidenschaft für den Actenstaub, er beschäftigte sich in der That nicht blos von Berufswegen damit. Es war sein größtes Vergnügen, in Archiven und Bibliotheken herumzustöbern und uralten Acten und Handschriften nachzuspüren, für die sich sonst kein Mensch mehr interessirte, und die er mit dem größten Eifer durchstudirte.

Er hatte längst schon sein Augenmerk auf Werdenfels gerichtet, denn das Archiv und die Bibliothek des Schlosses galten als die reichhaltigsten der ganzen Umgegend, aber der Freiherr hatte Beides nach Felseneck bringen lassen, als er dort seinen Wohnsitz nahm, und Felseneck war und blieb unzugänglich auch für den Justizrath. Er bekam nicht einmal seinen Clienten zu Gesicht, viel weniger dessen Archiv, und jeder Versuch zu einer persönlichen Annäherung wurde höflich, aber bestimmt abgewiesen.

Das änderte sich jedoch, als der Freiherr nach Werdenfels kam und allmählich wieder in Verkehr mit den Menschen trat. Er empfing dort auch einige Male seinen juristischen Vertreter, und dieser säumte nicht, die Erlaubniß zu einer gründlichen Durchmusterung der vorhandenen Actenschätze zu erbitten. Raimund hatte mit der größten Artigkeit seine Zustimmung ertheilt, und der Justizrath benutzte die erste Gelegenheit, um sich auf einige Tage frei zu machen und nach dem Bergschlosse zu fahren.

Die Ausbeute, die er dort fand, fiel über Erwarten reichlich aus. Die Werdenfels waren nicht nur eines der ältesten und reichsten, sondern auch eines der unruhigsten Geschlechter gewesen, das fortwährend in Umfrieden mit seinen Nachbarn und seinen Anverwandten lebte. Da gab es alte Grenzstreitigkeiten, die sich durch Jahrzehnte hinzogen, Erbschaftsprocesse von höchst verwickelter Beschaffenheit, Klagen, Vergleiche, richterliche Entscheidungen, und vor Allem eine unendliche Menge Acten darüber. Der Justizrath wühlte sich förmlich ein darin, er saß vom Morgen bis zum Abend im Archiv und athmete mit einem wahren Entzücken den Staub ein, der aus all diesen vergilbten Pergamenten und Urkunden emporwirbelte. Mit ausdrücklicher Erlaubniß des Freiherrn traf er endlich eine Auswahl unter den Papieren, um das Interessanteste mit nach Hause zu nehmen und es dort in aller Ruhe durchzustudiren.

Es war am Morgen des zur Abfahrt bestimmten Tages; der Justizrath beschäftigte sich eben damit, die Acten zusammenzupacken, die er mitnehmen wollte, als die Thür seines Zimmers sich öffnete und sein Kutscher eintrat, der gleichfalls in Felseneck geblieben war.

„Was kommt Ihr jetzt schon, Anselm?“ fragte Freising, etwas ungehalten über diese Störung. „Ihr wißt ja, daß ich erst um die Mittagsstunde fort will.“

„Ich wollte nur anfragen, ob der Herr Justizrath nicht lieber heut Morgen fahren wollen,“ meinte Anselm. „Wir werden am Nachmittag Schnee haben.“

„Warum nicht gar! Das Wetter ist prächtig und wir haben hellen Sonnenschein.“

„Ja, aber die Geisterspitze ist zum Greifen nahe! Die schickt uns sicher wieder ein Wetter über den Hals.“

„Was geht mich die Geisterspitze an?" sagte Freising ärgerlich. „Ich habe noch Vieles zu ordnen und kann nicht vor ein Uhr fertig sein.“

„Dann fahren wir vielleicht morgen,“ schlug Anselm vor.

„Nein, ich muß heut Abend in der Stadt sein. Was habt Ihr denn eigentlich? Warum wollt Ihr am Nachmittage nicht fahren? Dahinter steckt etwas.“

Der Kutscher drehte verlegen seine Mütze in den Händen hin und her.

„Es ist nur – wir haben heute Sanct Rupertus – und da ist es nicht geheuer in den Bergen, das weiß jedes Kind. Wenn wir heute in den Schnee gerathen, dann faßt uns die Eisjungfrau, und Sie kennen ja das Sprüchwort: Wenn die Eisjungfrau von der Geisterspitze niedersteigt –“

„Dachte ich es doch, daß so etwas herauskommen würde!“ fuhr der Justizrath auf. „Schämt Ihr Euch denn nicht, Anselm, an solchen Unsinn zu glauben? Ihr wißt, wie ich darüber denke. Wir fahren auf jeden Fall am Nachmittage, und ich sage Euch, das Wetter bleibt schön, ich verstehe mich auch auf die Wetterzeichen.“

„Ja, aber die Geisterspitze –“

„Laßt mich endlich in Ruhe mit der Geisterspitze! Ihr seid pünktlich um ein Uhr mit dem Schlitten im Schloßhofe, damit wir noch vor Einbruch der Dunkelheit in der Stadt sind, und wenn die Geisterspitze, die Eisjungfrau und all das Hexenzeug, das in Eurem Kopfe spukt, uns unterwegs aufhalten wollen, so werde ich sie allesammt zum Kukuk jagen!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 317. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_317.jpg&oldid=- (Version vom 1.1.2024)