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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

seinen Flug genommen und den Lorbeer, welcher die Kaiserkrone umschlang, an seine Fittige geheftet. Hier, in den hallenden Gemächern, in den dunklen Gängen, den weiten Galerien haust noch ein gut Stück Romantik, welche auch von außen das Schloß umsponnen hat, besonders an der die Spree begrenzenden Seite. Epheu schlingt sich dort um die alters geschwärzten Mauern, von denen sich der ursprünglichste Theil des Schlosses, der einst zu Gefängnissen dienende grüne Thurm, scharf abhebt; schief und schmal sind die Fenster, verwittert und abgebröckelt das Gestein, verbogen die Zinnen und Erker, und wer hier Nachts weilt, wenn der Mond durch zerrissenes Gewölk lugt, wenn seine Strahlen über die sturmerprobten Jahrhunderte alten Zinnen und Erker huschen, wenn die Wellen der Spree an die hier zahlreich befindlichen Fischbehälter und Kähne plätschern und das Monument des Großen Kurfürsten seinen dunklen Schatten über den Wasserspiegel wirft, der kann sich wohl in jenes Berlin zurückversetzen, welches unter den Hauptstädten die mißachtetste und verspottetste Rolle spielte.

Freilich, das moderne, das kaiserliche Berlin kennt keine derartige Schwärmerei und Pietät: unmittelbar am Schloß vorüber und ihm sogar einen althistorischen Anbau, den der Schloßapotheke, raubend, spannen sich in mächtigen Bogen die gewaltigen Quadern der Kaiser-Wilhelm-Brücke und führen uns in die mit bewundernswerthen Prachtbauten eingesäumte, als Verlängerung der Linden dienende Kaiser-Wilhelm-Straße. Rücksichtslos bohrt sie sich in den ältesten Theil der Stadt als gewaltiger, zerstörungslustiger Keil ein; die niedrigen, auf Pfählen stehenden Häuschen, mit Schindeln bedeckt, mit wackeligen hölzernen Altanen versehen, fielen ebensogut der Spitzhacke und der Schaufel zum Opfer wie die ehrwürdigen Kaufmannshäuser mit ihren kunstvollen Thorbögen, den hallenden Fluren und breiten Wendeltreppen. In Staub und Schutt versanken diese historisch interessanten Gäßchen und Gassen, und fast über Nacht stieg daraus die neue, glänzende Straße empor, welche nun den direkten Verkehr vom äußersten Westen der Residenz bis zum innersten Centrum ermöglicht.

Mitten aber aus den noch übrig gebliebenen Partien der ehemals kurfürstlich brandenburgischen Stadt erhebt sich hoch und gewaltig das Rathhaus und blickt grüßend zu dem benachbarten Königsschlosse hinüber. Ist dort der Schauplatz fürstlicher Machtentfaltung, wurde dort die Krone mit Blut und Eisen geschmiedet: so ist hier der Raum für unermüdlichen bürgerlichen Fleiß; so ist hier das Feld, auf dem rastlos an der Größe der Stadt geschaffen wird. Wenn wir von der Plattform des Thurmes auf das meilenweit sich ausbreitende Dächermeer, auf das Gewirr der Straßen und Plätze, auf das nie rastende Leben und Treiben der Weltstadt hinunterblicken, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß vor fünfundzwanzig Jahren hier eine halbe Million Menschen lebte, deren Zahl heute fast das Dreifache beträgt: dann werden wir von Bewunderung erfaßt vor der Pflichterfüllung und vor der Arbeit, die Stunde für Stunde, Tag für Tag und Jahr für Jahr an diesem Platze, von dieser Stelle aus geleistet worden sind und noch geleistet werden, und mit herzlicher Freude erkennen wir an, daß sich der Bär, das Sinnbild des Berliner Magistrats, mit dem Adler der Hohenzollern zu ruhmbringender, erfolggekrönter Thätigkeit verbunden hat.

Ja, der Weg vom Brandenburger Thor bis zum Rathhause verkörpert uns mit seinen angrenzenden Theilen, mit den Querstraßen der Friedrichstraße bis zur Leipzigerstraße, mit dem wohlgepflegten Wilhelmplatze, an dessen Seiten sich still vornehme Palais erheben, und mit dem ehemaligen Gendarmenmarkt, dem jetzigen Schiller-Platze, der die beiden schönsten Kirchen Berlins, den deutschen und französischen Dom, sowie Schinkels genial-erhabenes Schauspielhaus umschließt, das schönste und bedeutungsvollste Stück der deutschen Kaiserstadt. Von hier aus hat sich in gewaltigen und immer gewaltigeren Kreisen die Residenz ausgestreckt und ausgereckt; von hier aus schoben sich die Häusermassen nach allen Seiten vor; hier vibrirt das öffentliche Leben am fieberhaftesten; von hier aus durchzucken die Nachrichten bedeutender Ereignisse die ganze Stadt und lassen die Bevölkerung nach diesem Viertel strömen, welches wahrlich würdig ist, Berlin zu repräsentiren, welches werth ist, das eigentliche Herz der Stadt zu bilden!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 111. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_111.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)