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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

besaß. Unter tausend Mühen hatte sie es groß gezogen, es so treu gehütet, sein unsterblich Theil so sorgsam gepflegt und bewahrt, wie sein leiblich Leben. Darum war auch des Mädchens Seele so rein geblieben, wie das Brünnlein, das den Hüttenhewohnerinnen seinen krystallenen Schatz fast zum Fenster hineinsprudelte, und ihre Gestalt war so zierlich emporgewachsen, wie die schlanke Tanne, die der Vater bei der Geburt des Kindes in dem kleinen Gärtchchen neben dem Hause gepflanzt hatte. Dabei war sie so munter, wie die hüpfende Welle des „Ortbachs“, und Augen hatte sie blau und lieb wie die Vergißmeinnichtblümchen, die ihn säumen. Jetzt waren sie freilich von Thränen getrübt.

„Ach, Mutter!“ sprach sie, „warum müssen wir so arm sein, daß wir nicht immer beisammen bleiben können, sondern ich mit hinaus muß in die fremde Welt, wo Niemand mich liebt und keine Mutter bei mir ist?“

„Ja,“ erwiederte die Mutter, „ich ließe Dich nicht mit ziehen, wenn wir nicht noch von der langen Krankheit Deines seligen Vaters her so tief in Schulden stäken, und wenn die „Borten“[1] noch gingen, daß man damit wenigstens sein knappes Auskommen hätte. „Indeß“ – fuhr sie schluchzend fort – „es muß so sein – es geht jetzt Vielen wie uns, und wir müssen noch froh sein, daß Du in so guter Gesellschaft reisest: die Schmidt-Lene ist eine brave Frau; sie spielt nur an ehrbaren Plätzen; sie wird immer um Dich sein und ein Aug’ auf Dich haben. – – O mein Rösel – bleib mir fein brav – habe Gott vor Augen und im Herzen und hüte Dich, daß Du in keine Sünde willigest – es bräche mir das Herz, wenn – –“

Hier erstickte das Schluchzen ihre Rede; sie bedeckte ihr Gesicht mit der blauen Leinwandschürze, und Röschen weinte mit ihr. Endlich ermannte sich Frau Goldhahn (das war der Name der kleinen Familie), stand auf und holte aus dem Schränkchen, das an der hintern Wand des Zimmers hing, ein kleines Etui; daraus zog sie ein Miniaturbildchen hervor.

„Sieh, Röschen,“ sprach die wackere Frau, „dieses Bild Deines Vaters geb’ ich Dir mit auf die Reise – trag’ es immer an Deinem Herzen und betracht’ es täglich – es wird Dir ein Schild sein gegen jede unreine Berührung. Vergegenwärtige Dir bei seinem Anblicke immer und immer wieder Alles, was ich Dir von dem Seligen erzählt habe, so wird nie ein Mann Gewalt über Dich gewinnen, der nicht so fromm und gut, so rein und redlich ist wie er. Ach! wenn er hätte denken sollen, daß es uns so ergehen würde! Damals, als ihn sein Bruder für mich malte, leuchteten uns ganz andere Hoffnungssterne. Er war ein so kluger und geschickter Mann, und es mußt’ ihm Alles so fehlschlagen!“

Frau Goldhahn küßte das Bild und hing es der Tochter um den schneeweißen Hals, worauf sie nicht müde wurde, ihr auf’s Neue von dem verstorbenen Vater zu erzählen, um sein Charakterbild recht tief in die jungfräuliche Seele zu prägen; denn die fromme Mutter war des Glaubens, daß neben diesem Bilde nie ein unwürdiges Raum, nie ein beflecktes Geltung gewinnen könne.

So verfloß der weiße Sonntag in dieser Hütte, die am folgenden Tage ihres reizendsten Schmuckes auf lange Zeit beraubt werden sollte. Wie der Morgen graute, erschien die „Schmidt-Lene“ mit ihrem Manne und drei jüngeren Schwestern vor der Thür, durch die sie Röschen bald den Armen der jetzt gefaßten Mutter entführten.

Wir folgen den Wanderern jetzt nicht in die fernen Gegenden, die sie bereisen, sondern warten auf ihren Bergen, bis wir sie sehen wieder daher gezogen kommen. –

Es fehlten nur wenig Tage bis zur Kirmes; einzelne Breitenbrunner Zugvögel waren schon mit gefülltem Beutel heimgekehrt, und die Schmidt-Lene mit ihrer kleinen Künstlergesellschaft wurde noch heute erwartet. Kein Wunder daher, daß das Häuschen an der Gabel des „Ortbachs“ leer stand – denn seine einsame Bewohnerin war über alle Berge weg, die zwischen Breitenbrunn und Raschau liegen, der Tochter entgegen. Wer an der unbelebten Wohnung vorüberging, konnte durch die Fenster sehen, wie blank gescheuert und aufgeputzt das kleine Zimmer war, ja daß sogar eine Guirlande von grünem Laub und rothen Vogelbeeren an den Wänden hinlief und die Thür durch eine Einfassung von Tannenzweigen und Immortellen in eine Ehrenpforte verwandelt war. Du heilige, süße Mutterliebe!

Sie war aber auch solcher Liebe werth, sie, der diese Ehrenpforte galt! Denn rein, wie sie vor einem halben Jahre aus den Armen der Mutter hinausgezogen war in die große Welt, kehrte sie jetzt an der Hand dieser Mutter zurück unter das niedere, aber von keiner Sündenschuld belastete Dach. Das zeigte das unverändert klare Vergißmeinnichtauge, das sonnige, Unschuld strahlende Antlitz, das zeigte ihr ganzes seraphgleiches Wesen. Und doch war sie eine Andere, als wie sie gegangen; das Mädchen war eine Jungfrau geworden, und auf ihrer Stirn lag der Adel des Bewußtseins glücklich bestandener Prüfungen, aus ihren Augen leuchtete die Flamme einer seligen Verklärung.

Die Augen einer Mutter sehen scharf. Frau Goldhahn erkannte sogleich, daß ihre Tochter ihrer werth geblieben; aber auch die angedeutete Veränderung entging ihr nicht, nur wußte sie dieselbe nicht zu deuten. Es war etwas „Vornehmes,“ wie sie es nannte, an ihr, das sie früher nicht besessen, und ein Gefühl des Glückes, der Befriedigung spiegelte sich in ihren Mienen, worauf die gute Frau fast eifersüchtig war, weil sie einen Augenblick glaubte, daß es ihrem Kinde in der Fremde doch besser gefallen habe, als daheim. „Wenn es ihr draußen zu wohl gefällt,“ dachte sie auf dem Heimwege, „so wird sie mich bald wieder verlassen, und am Ende einmal gar nicht wieder kommen.“

Von dieser Sorge wurde sie indeß befreit, als Röschen nach den ersten Umarmungen, die sie daheim unter der grünen Ehrenpforte mit der Mutter getauscht, ausrief: „Daheim ist doch daheim! bei Dir ist’s am schönsten, Mutterle! Nun bringt mich auch sobald Niemand

  1. Geklöppelte Spitzen.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 394. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_394.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)