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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

Nur das „werden sollen“ in dieser scharfen Beobachtung hat mich immer überrascht, bedarf wenigstens einer Erläuterung; selbst hier, wo ich Dich einfach auf Lessing’s Fingerzeig hinweisen will.

– Die „wahren, echten Wunder,“ unter denen der große Dichter nur die überraschenden Erscheinungen im Natur- und Menschenleben meinen kann, sollen nun wohl deshalb „alltäglich“ werden, damit sie uns für unser Handeln den Gleichmuth und die klare Ruhe nicht beeinträchtigen. Wie nun werden sie uns alltäglich? Sie werden es entweder durch Nichtbeachtung und Unkenntniß, oder sie werden es, indem wir diese aufregenden Außendinge uns aneignen, in uns aufnehnen durch Kenntniß. Was wir uns innerlich gemacht haben, das kann uns nicht mehr Wunder nehmen.

Es kann bei Dir keine Frage sein, lieber Freund, daß wir den letztem Weg einschlagen müssen, an dessen Ziele die Heilung von Aberglauben jeder Art liegt.

Zu den „wahren, echten“ Wundern Lessing’s gehört unstreitig die Insectenverwandlung, die für das kenntnißlose Volk auf dem ersteren der beiden bezeichneten Wege, durch Nichtbeachtung und Unkenntniß, das Wunderbare verloren hat.

Wenn ich Dir jetzt sage, man habe auf einer neu entdeckten fernen Insel einen Vogel gefunden, der als zwölfäugige Schlange von ungeheurer Gefräßigkeit, die auch das Ekelhafteste nicht verschmähe, aus dem Ei krieche; dann monatelang mumienähnlich ohne Bewegung und ohne Nahrung zu sich zu nehmen tief im Erdboden vergraben liege, und erst im folgenden Jahre aus diesen sonderbaren Banden sich befreie, um als lustiger Vogel davon zu fliegen und nur von süßem Blumennektar lebe – was würdest Du da sagen?

Du würdest mir in’s Gesicht lachen. Aber Du würdest dazu nur halb Recht haben; denn ich würde sagen, warum lachst Du? Weil Dir eine Schlange und ein Vogel zu verschiedene Gestalten sind, als daß sie von einem und demselben Thiere in seinen Entwickelungsabschnitten getragen werden könnten? Und wenn ich Dir nun auf Naturforschungen die Wahrheit meiner Geschichte versichern würde – wie dann? Du würdest vor Staunen Dich nicht zu lassen wissen. Du würdest Wunder über Wunder schreien. Setze für Vogel – Schmetterling. Ja der – würdest Du gedehnt und enttäuscht aussprechen. Nun – der –; ist es bei ihm minder ein Wunder? Ist zwischen einem Schmetterlinge und einer Raupe eine geringere Unähnlichkeit als zwischen einem Vogel und einer Schlange?

Wie Wenigen wird es denn so recht tief und innerlich klar, wie wunderbar die Verwandlung einer Raupe in eine Puppe und dieser in den Schmetterling ist? Es ist uns aber „alltäglich“ geworden, und darin liegt das Wunderbare.

Nicht das ist wunderbar, was jenseit der Grenze menschlicher Erkenntniß liegt – (dort drüben liegt überhaupt für den Menschen nur das, was er selbst erst hingelegt hat) – sondern was diesseit liegt und sein Wunderbares eben nur in der ewigen Unerschöpflichkeit seiner wechselnden Erscheinungen hat.

Man hat die Insectenwelt schon oft eine Welt voll Wunder genannt, und man hat Recht, es zu thun; und dennoch liegt auch hier das Wunderbare nur in dem Ueberraschenden, dem flüchtigen Blicke scheinbar Unvermittelten.

Die Insectenverwandlung ist in dieser Hinsicht, wenigstens, um es so zu bezeichnen, der oberflächlichen Bekanntschaft nach, allgemein berühmt. Dennoch, mein Freund, fehlt noch viel, sehr viel, um sagen zu können, das Volk kenne die Wunder der Insectenverwandlung so, wie sie gekannt zu werden verdienen und lohnen.

Schon die Alten, die überhaupt tiefere Kenner der Natur waren, als unsere heutige Schul-Philosophie es sich träumen läßt, wählten den sich der Puppenhülle entwindenden Schmetterling als Sinnbild der Psyche. Unsere Zeit oder richtiger die neue Weltanschauung, innerhalb der dem Menschen gezogenen Schranken bleibend, kann das Bild eben so passend anwenden auf die den Banden der häßlichen Unwissenheit und des schändenden Aberglaubens sich entwindende Menschheit.

Ja das Sinnbild ist recht eigentlich bezeichnend. Sieh die Raupe an. Sie fröhnt in träger Gebundenheit auf ihrer Futterpflanze dem Bedürfniß des Magens, eine strotzende Fülle von Säften sammelnd. Dann webt sie sich ihr gemächliches Lager zur trägen Puppenruhe, wo sie die gesammelten Säfte behaglich verarbeitet. Dann aber wacht in ihr plötzlich der Drang nach etwas Edlerem auf; sie sprengt die alten Bande und fliegt als befreiter Falter dem Lichte der Sonne entgegen und besucht Blume auf Blume, um von ihnen ihr geläutertstes Erzeugniß, den süßen Nektar zu nippen. Wenn das Thier zum Schmetterling wird, ist es schon alt. Es erfreut sich erst im hohen Alter seines bessern Seins.

Sieh, mein Freund! ist’s heute nicht eben so mit den Menschen? Ich kenne Tausende, die erst jetzt aus der dumpfen Puppenruhe ihrer Spießbürgerlichkeit erwachen und in ihren alten Tagen noch in sich einen Drang zu etwas Höherem sich regen fühlen. Bücher sind ihnen Blumen, durchdrungen von dem Lichte der Wahrheit, erfüllt von dem Honig nützender Lehre.

Aber wo bin ich hingekommen! Ich wollte beschreiben und habe es nicht weiter, als bis zu Gedanken gebracht. Doch die Gedanken sind ja auch bunte Falter, oder wenn’s auch nur Eintagsfliegen wären; ja wirklich, das sind sie, mehr als andere, denn die Eintagsfliegen sind die einzigen Insecten, die sich als vollendete Insecten noch einmal häuten: so häuten sich auch oft unsere Gedanken, bis sie blank und hell vor uns stehen, nachdem sie das Unklare, Irrige abgestreift haben.

Wem die Natur Stoff zu sinnigem Denken ist, der ist ihr wahrer Jünger. Aber ich verspreche Dir, in meinem nächsten Briefe Dir mehr zu beschreiben als vorzudenken. Verzeihe nur, daß ich am Ende gar meinen heutigen mehr für mich, als für Dich geschrieben habe. Das geht Einem ja mit den Briefen oft so. Du wirst als Empfänger meines Briefes es um so lieber verzeihen, je näher wir uns stehen, so daß unsere Briefe so viele verknüpfende Bänder sind.




Blätter und Blüthen.

Der Milchbaum. Der Engländer Wallace fand auf seiner unlängst veröffentlichten Reise am Amazonenstrome und dem schwarzen Flusse (Rionegro), in Südamerika unweit Para zuerst einen Baum, der in Europa noch nicht bekannt ist und mehr Milch giebt, als eine neumelkende Kuh. Die Milch, die aus der geöffneten Rinde fließt (wie Gummi und Gutta Percha, dieses vegetabilische Eisen) gleicht guter Milch oder vielmehr junger Kaffee-Sahne und schmeckte auch zum Thee und Kaffee ganz vorzüglich.

Die Milch, welche bei uns von der Natur vermittelst der Kuh fabricirt wird, kommt dort also durch eine Baumart zur Welt. Dabei ist diese vegetabilische Milch nahrhafter, als die thierische und etwas verdickt so zähe, daß man damit ganz schön leimen kann. Die Pflanzensäfte – Gummi, Gutta Percha, diese Baummilch und andere, werden überhaupt eine immer bedeutendere Rolle spielen, und die neue Welt in ihrem Eifer, Glück und Geld zu machen, sehr unterstützen.


Tartaren-Bekehrung. Die russischen Tartaren, welche noch eine eigenthümlich heidnische Religion haben, werden seit Jahren auf Befehl des Kaisers bekehrt. Nach Harthausen’s Buche über Rußland wird das so gemacht. Es werden verschiedene Priester von der Regierung ausgesandt, um diese Heiden zu bekehren, und fordern zu diesem Zweck von dem in’s Gebet genommenen Heiden zuerst drei Dinge. Erstens: Haar wachsen lassen; zweitens: kein Pferdefleisch mehr essen; drittens: Verehrung von Bildern und eines Kreuzes. Bilder und Kreuze zu verschiedenen Preisen haben die Evangelisators gleich bei sich. Hat der Heide die beiden ersten Dinge versprochen und Bilder und ein Kreuz gekauft, wird er getauft und als christlicher Unterthan zu Papiere gebracht.

Der weibliche Robinson. Die kalifornische Zeitung „Placer Times“ erzählt von einer Indianerin, die 18 Jahre lang auf einer Insel allein lebte. Im Jahre 1824 wurden fast alle Einwohner der Insel St. Nicolas, unweit der Insel Santa Barbara im stillen Meere, von russischen Matrosen ermordet. Nach etwa 10 Jahren wurden die wenigen Ueberlebenden auf ihren Wunsch von einem Schiffe auf eine andere Insel gebracht. Als sie alle an Bord waren, vermißte eine Indianerin ihr Kind und lief zurück, während das Schiff, von einem Sturmwindstoße gepackt, in’s Meer getrieben ward. Nach drei Monaten suchte dasselbe Schiff vergebens nach der Zurückgebliebenen und sie ward und blieb vergessen, bis ein amerikanisches Schiff auf der Otterjagd zufällig diese Insel berührte, menschliche Fußstapfen und endlich die Indianerin entdeckte. Sie nähte gerade Häute von Vögeln zu Kleidern zusammen mit Nadeln von Fischknochen und Zwirn von Wallfischflechsen. Ihr Kind hatte sie schon im ersten Jahre durch den Tod verloren und von da an 18 Jahre lang allein auf der Insel zugebracht. Genial waren ihre Angelhaken aus alten Nägeln gemacht, die sie in einem Brette gefunden hatte. Sie willigte gern ein, wieder unter Menschen zu kommen. Sie hatte während der ganzen 18 Jahre nicht nur keine menschliche Seele, sondern auch kein Feuer, dieses Sinnbild der Civilisation, gesehen.



Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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