Seite:Die Gartenlaube (1854) 124.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

wäre er ein eitler Ladendiener, der Sonntags in einem neuen Anzug ausreiten und vor dem Fenster der Angebeteten vorbei furchtbare Verwüstungen in dem zarten Herzen anrichten will. Von Thackerry ist mir kein Eindruck geblieben, als daß er, wie ein feiner, gebildeter Engländer aussah, ohne markirte Individualität im Gesicht. Jerry Douglas, der etwas derbe, selbstständige Humorist, der in Deutschland noch nicht gewürdigt genug zu sein scheint, ist ein breitschultriger, vollmondiger, alter Vollblut-Angelsachse, der in sein „Lloyds Weekly-Newspaper“ alle Wochen Artikel schreibt, die alle anglosächsische Kraftworte und eine entsprechende Geißelung der modernen Normannen in „Hand und Fuße“ haben. Er schreibt und ist nicht gern nüchtern und hat im Gesicht Ähnlichkeit mit Jean Paul.

Dickens kenn’ ich am Genauesten, d. h. ich kenne nicht nur seine Wohnung (im zurückgezogenen Russel-House, Tovistocksquare) und habe seinen großen messingenen Namen daran gesehen, sondern ihn auch selbst und sogar ein Dutzend Male im Vorübergehen gesehen und mit ihm gesprochen. Eine gedrungene, schmale, feine Gestalt mit einem Haupte zwischen reichlich wallendem Haar, das schon durch das Deficit des englischen Backenbartes, welches dem edelsten Gesicht einen prosaischen Ausdruck giebt, ein höheres Wesen verräth. Die Gesichtszüge sind sehr scharf und fein geformt, das Auge ungemein fest und klar, aber beim Sprechen und Lächeln sieht man, welch eine reiche, große Individualität sich darin einen Kopf gemeisselt. Dickens ist vielleicht die vollendetste Verkörperung dessen, was man Individuum nennt. Wie er Menschen geschaffen, die so individuell, so bis in’s Einzelnste und Eigenthümlichste erkannt und geschildert, keine Literatur und keine Zeit nur annähernd aufzuweisen hat, ist er auch eine Erscheinung, die auf den ersten Anblick durch eine zugleich scharf und edel bis in’s Feinste ausgeprägte Individualität sofort einen lebhaften, unerklärlich anziehenden Eindruck macht. Wir denken ihn wirklich persönlich kennen zu lernen. Dann wird es Zeit sein, die beste Kraft zu versuchen, ein richtiges, würdiges Bild von diesem Genius zu entwerfen, der unter allen Nationen verehrt und geliebt, aber in seiner großen tiefen, reichen Eigenthümlichkeit und seiner praktischen Bedeutung für die Cultur und Erhebung des Volkes wohl noch nirgends hinreichend verstanden und begriffen wird. – Charles Lever, der lustige Irländer, einer der übermüthigsten Humoristen der englischen Literatur, ist blos einmal vor mir vorbeigeflogen. Jeder lacht hier schon, wenn er den Namen dieses bausbäckigen, lustigen Celter hört, und auch der Deutsche wird lachen, der „meine eigenen Geständnisse“ (die hoffentlich übersetzt sind) gelesen. Was kann lustiger sein, als seine Fahrten durch Deutschland, seine Rolle, die er als Gesandter am Hofe zu München spielte, ohne ein Wort deutsch zu [verstehen], seine Wahnsinnsscene, um sich einen guten Platz durch [...eibung] eines Fremden zu verschaffen, der hernach, bei Tage besehen, sein bester Freund war, seine Bedientenrolle als Liebhaber?

In der schönen Literatur Englands nehmen übrigens die Damen eine ebenso umfang- als inhaltreiche Stellung ein. Sie bewegen sich aber alle in Kreisen, die dem Fremden verschlossen sind, so daß ich keine einzige der schönen und gefeierten Schriftstellerinnen persönlich kenne und nur Mrs. Norton, den weiblichen Byron, bei einer sehr peinlichen Gelegenheit, nämlich als öffentliche Anklägerin ihres Mannes, zu sehen bekam. Miß Edgeworth, Miß Außen, Miß Milford gehören unstreitig zu den graziösesten Roman-Componisten. Miß Mulach (Verfasserin des „Familienhaupts“), Miß Bronté („Jane Eyre“), Mrs. Gaskell („Mary Barton“), Mrs. Marsh („Erzählungen zweier Greise“) und Mrs. Norton (aus der berühmten Familie Sheridan) schreiben kein Buch, das nicht sofort im schönsten Einbande und prächtigster Ausstattung die Tische der Besuchzimmer zierte. Großes Genie ist in ihren Büchern nicht, aber ungemein viel sittliche und humane Grazie, Vornehmheit und Feinheit menschlicher Beziehungen, zuweilen auch schöne, zartsinnige Empörung über die heuchlerische Verformelung und Verflachung der englischen „guten Gesellschaft“, die mit der Zeit wirken wird, und im Ganzen keine sogenannte „Blaustrumpfigkeit“ mehr.

Schließlich läßt sich noch erwähnen, daß eine ziemliche Anzahl Deutsche als Schriftsteller in London leben. Wir nennen nur Bunsen, Bücher, Beta, Bauer, Faucher, Meyer, Schlesinger, Kolisch, Petermann, Seemann, Ohli, Freiligrath u. s. w. Bunsen ist wenigstens mehr Schriftsteller als Gesandter. Eine deutsche Dame schrieb neuerdings den englischen Musikroman „Charles Auchester.“ Viele Deutsche, die als Mitarbeiter an englischen Zeitungen [sit] sind, lassen sich blos rathen, da es in England für anständig gilt, nicht wissen zu lassen, wer ein Blatt redigirt oder schreibt.

So viel über Schriftstellerleben in London. Wenn man nicht viel „Leben“ darin fand, bedenke man, daß London nicht dazu da ist, um darin zu leben, sondern zu arbeiten oder den Spleen zu bekommen.




Aus der Menschenheimath.

Briefe des Schulmeisters emerit. Johannes Frisch an seinen ehemaligen Schüler.
Zwanzigster Brief.
Die Insekten-Verwandlung.
II.


Ehe ich Dir Einiges von meinen kleinen Wundergeschichten aus der Entwicklung der Insekten erzähle, muß ich Dir noch zweierlei vorher bemerken; erstens, daß neuere Forschungen auch in andern niedern Thierklassen eine Verwandlung aufgefunden haben, die oft nicht minder überraschend ist; und zweitens, daß nicht alle Insekten eine Verwandlung haben.

Der Naturforscher verbindet mit dem Worte Verwandlung hier einen genau abgegrenzten Begriff; er braucht es nicht so unbestimmt, wie es im Leben meist der Fall ist. Er schreibt z. B. den Schmetterlingen eine Verwandlung zu, und spricht sie den Heuschrecken ab; obgleich die jungen von den vollkommen entwickelten Heuschrecken durch den gänzlichen Mangel der Flügel auffallend genug abweichen. Ich muß Dir daher genau bestimmen, was die Wissenschaft unter Insektenverwandlung versteht, damit wir uns im Verlauf meiner Mittheilungen nicht falsch verstehen. Man sagt nämlich von denjenigen Insekten, daß sie eine Verwandlung, Metamorphose, haben, welche während ihres Lebensverlaufs in einen nach rück- und vorwärts scharf begränzten Zustand kommen, der außer einer auffallenden Gestaltveränderung sich hauptsächlich dadurch zu erkennen giebt, daß sie in ihm sich nicht frei bewegen und keine Nahrung zu sich nehmen können. Das ist natürlich der Puppenzustand, den die Wissenschaft wie das Leben gleich benennt.

Da weitaus die größte Zahl der Insekten im vollkommenen Zustande geflügelt sind, und alle geflügelten Insekten in der ersten Hälfte ihres Lebens der Flügel entbehren, so zerfällt das Leben der Insekten sehr bestimmt in vier Abschnitte oder Zustände. Diese sind der Eizustand, der Larvenzustand, der Puppenzustand und der Fliegenzustand.

Schon diese scharfe Gliederung des Insektenlebens unterscheidet diese interessante Thierklasse von den übrigen Thieren, bei denen die Gestaltveränderungen mehr unwesentlicher Art sind und mehr allmälig in einander übergehen.

Es ist vielleicht nicht überflüssig, wenn es auch auf den ersten Blick so scheinen könnte, vorher genau festzustellen, was die Wissenschaft, welcher sich hierin das Wissen des Lebens anpassen muß, unter Insekten versteht. Spinnen und Krebse sind z. B. keine Insekten, zu denen man sie gewöhnlich, jedoch immer mit einem gewissen und ganz natürlichen Widerstreben, wirft. Ein wahres Insekt hat immer einen aus drei Haupttheilen zusammengesetzten Leib, von denen der Kopf den ersten bildet. Dieser aber ist bekanntlich bei Spinnen und Krebsen innig mit der Brust verschmolzen.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 124. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_124.jpg&oldid=- (Version vom 21.4.2020)