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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

Mädchen. Ihre Aeltern, welche sie im Grunde lieb hatten, boten zwar Alles auf, sie von ihrem Vorsatze abzubringen, allein das Mädchen blieb unerschütterlich.

Kaum 18 Jahre alt, kam sie ganz allein nach Paris; sie miethete anfangs ein leidliches Zimmer und da sie hinlängliche Fertigkeit im Nähen besaß, suchte sie dieselbe zu verwerthen. Es gelang ihr, nach kurzem Aufenthalt, hinlänglich Aufträge und Beschäftigung zu erhalten. Da sie aber durch zwölf Stunden anstrengender Arbeit nicht mehr denn 11/2 Franken täglich gewann, mußte sie ihre halbwegs bequeme Wohnung aufgeben, die zwanzig Franken monatlich kostete, weil sonst die Einnahme für den nothwendigsten Bedarf nicht reichte. Das Mädchen miethete ein Dachstübchen von so kläglicher Konstruktion, daß sie in demselben nicht aufrecht stehen konnte, nicht zu reden von dem kargen Licht, das nicht geeignet war, ihr die Arbeit zu erleichtern, von der erstickenden Hitze im Sommer, von der erstarrenden Kälte im Winter. Obgleich an ein angenehmes, leichtes Leben von Haus aus gewöhnt, unterzog sich das arme Geschöpf den furchtbaren Beschwerden mit einer Geduld, mit einer Entschiedenheit, die gewiß Bewunderung verdienen. Die Blüthe der Jugend verblaßte auf ihren Wangen. Die schlechte, spärliche Nahrung, die Arbeit und die dumpfe Luft der engen Stube wirkten nachtheilig auf ihre Gesundheit; sie litt ab und zu an einem Augenübel, dessen Grund ebenfalls in dieser Lebensweise zu suchen war; allein das Mädchen ließ sich nicht entmuthigen; sie dauerte aus, wie eine echte Heldin, ohne Klage, ohne Prahlerei, und in den Briefen an ihre Aeltern, welche sie mir zeigte, las ich die Versicherung ausgesprochen, daß sie sich ganz wohl befinde.

Wenn ich ihr sagte: „Aber, Fräulein Julie, wäre es denn nicht besser, sie wären ganz offen mit ihren Aeltern, geständen ein, in welcher Lage sie sich befinden, und trachteten, wieder heimzukommen an den väterlichen Herd, wo es für Sie am besten ist, wo Sie Ihre leidende Gesundheit wieder herstellen und das behagliche Leben wie ehemals fortführen könnten?“

Antwortete sie mir: „Was fällt Ihnen ein. Wenn man sich ein Schicksal wählt, muß man es auch ertragen können; ich habe eine Versorgung ausgeschlagen; ich muß meinem Vater beweisen, daß ich dazu ein Recht gehabt. Ich strecke nicht so leicht wie Sie meine Waffen. Ich habe so gut meinen Stolz, wie ein Anderer.“

So war Julie und in der That war der Stolz in ihrer verzweifelten Lage ihr guter Engel; ihr Stolz stand wie ein Wächter vor ihrer Seele und ihrem Herzen und wehrte jedem schlimmen Gedanken, sogar jedem bittern Gefühle den Eingang. Sie war fast immer heiter bis zur Lustigkeit; und wenn sie ein kleines Vergnügen sich zu verschaffen Gelegenheit hatte, genoß sie es so ganz und mit solcher Hingebung, als gäbe es für sie keine Sorge in der Welt.

Mir aber beengte es die Brust, wenn ich dieses Opfer der selbstgeschaffenen Marter sah.

Und nach langer Bemühung gelang es mir, eine Stelle für dieses würdige unglückliche Geschöpf bei einer anständigen, wohlhabenden Familie zu Amiens zu finden.

Mit welcher freudigen Eile hinterbrachte ich der Arbeiterin die frohe Botschaft.

Sie aber frug mich gedehnt, indem sie kaum von der Arbeit aufblickte: „Wo ist, sagen Sie, der Wohnort dieser Familie?“

„Zu Amiens,“ antwortete ich.

„Wo liegt das?“ frug sie weiter.

„In der Picardie.“

„Wie weit von Paris?“

„Kaum eine halbe Tagereise per Eisenbahn.“

„Es thut mir leid.“

„Was liegt daran, ob Sie etwas weiter oder weniger weit von Paris entfernt leben, wenn Sie nur gut aufgehoben und gut gestellt sind.“

„Sie haben vollkommen recht, etwas näher oder weiter, das bleibt sich gleich.“

„Ich habe mir, offen gestanden, die Aufnahme meiner Nachricht lebhafter gedacht!“

„Verzeihen Sie; ich bin Ihnen wirklich von Herzen dankbar für Ihre freundliche Absicht und Bemühung, allein ich mag Paris nicht verlassen.“

Ich blickte erstaunt auf. Das unglückliche Geschöpf, wie es vor mir saß, über die Arbeit tief herabgebogen, die Augen geröthet, blaß mit eingefallenen Wangen, die magern Hände in unablässiger Thätigkeit, dem unsäglichen Elend verfallen und von noch größerem bedroht; ich traute meinen Ohren kaum, als ich sie einen Antrag zurückweisen hörte, der ihr Erlösung von so viel Kümmernissen und Beschwerlichkeiten versprach.

„Aber um des Himmels Willen“ rief ich, „was haben Sie denn unter solchen Verhältnissen von Paris?“

„Das weiß ich selbst nicht so recht. – Paris“ – antwortete sie ganz ruhig.

„Fühlen Sie es denn nicht, daß Sie Ihre Gesundheit aufreiben?“

„Wenn ich nicht lange zu leben habe, so ist das ein Grund mehr hier zu bleiben. Ich will wenigstens noch die kurze Zeit genießen.“

„Genießen!“ wiederholte ich mit einer seltsamen Betonung, indem ich das Mädchen mitleidig anblickte.

„Wie ich Ihnen sage, das verwundert Sie, weil Sie noch nicht nachgedacht haben, wie viel Annehmlickkeiten man in Paris findet, die Einem entgegenkommen, ohne daß man sich um sie zu bemühen braucht.“

„Welche sind diese?“

„Rechnen Sie für nichts, was man Alles sieht, wenn man ausgeht um Arbeit zu holen oder wegzutragen. Die schönen Häuser, die Boulevards, die geputzten Menschen und reichen Auslagen. Und dann, wie fein und höflich hier Einem ein Jeder entgegenkommt, wo Sie was kaufen oder Arbeit liefern, und wie sich doch Niemand um Sie und um ihre Verhältnisse kümmert, und wie Sie mit Ihrer Armuth eben so gut, wie mit Ihrem Wohlstand nach Ihrem Belieben leben können, ohne daß Sie sich zu schämen brauchen oder deshalb Geringschätzung erfahren. Das ist Alles mehr werth als ein gutes Auskommen. Und das hat man hier auch mehr Gelegenheit als anderswo zu finden. Es giebt hier so viele Straßen, durch die das Glück zu Einem kommen kann.“

„Aber auch das Unglück,“ murmelte ich kaum vernehmbar und unterließ jede weitere Einwendung gegen den Entschluß der Nätherin, von welchem sie abzubringen, ich keine Hoffnung hatte.

So wirkt Paris. Wie die Flamme auf den armen Falter, die ihn anzieht und tödtet.

Der Charakter der armen Nätherin war von spröderem Stoff, als viele ihrer Schwestern. Sie blieb in ihrer Dachstube, während die meisten Andern in Abgründe sinken, aus denen kaum wieder ein Emporkommen möglich ist. Julie hat wirklich ihr Glück gemacht. Ein arbeitsamer Mann lernte sie kennen und ihren Werth schätzen, was zu einer ehelichen Verbindung führte, die so gedeihlich ausfiel, als man es in Paris nur erwarten kann, wo der Boden nicht sehr günstig für ein bescheidenes häusliches Leben ist.

Wie das Proletariat in Paris nach oben hin die eigentlich schaffenden, hervorbringenden, in Kunst, Wissenschaft und Politik wirksamsten Kräfte liefert, so setzt es nach unten hin den Schlamm, den Bodensatz der Gesellschaft ab und giebt den verschiedensten Gerichtshöfen fortdauernde Beschäftigung. Der untere Theil des Proletariats fristet sein Leben durch Verbrechen. Die Meisten dieser Classe sind in steter Flucht vor der Polizei, von der sie unablässig beaufsichtigt und verfolgt werden und mit der sie an geistreichen Erfindungen, an List und Verschlagenheit wetteifern. Sie bilden mit der Polizei zwei feindliche Elemente im fortwährenden Kampf miteinander, der sehr häufig zu einer Art schlauen Schachspiels wird. Angriff auf der einen, Abwehr auf der andern Seite mit der scharfsinnigsten Berechnung. – Wir werden auf diesen Krankheitsstoff der pariser Gesellschaft bei einer anderen Gelegenheit des Ausführlicheren zurückkommen.

Zwischen diesen äußersten Polen in der Mitte ist der eigentliche Arbeiter, der durch Kraft und mechanische Geschicklichkeit seinen Unterhalt gewinnt. Der pariser Arbeiter hat sein ganz besonderes Gepräge. Zunächst verleiht ihm das Gefühl der Gleichheit, die in Frankreich wie in gar keinem andern Lande – ich nehme selbst die vereinigten Staaten nicht aus – eine Wahrheit geworden, eine Sicherheit und Unbefangenheit des Auftretens, die ihn vor seinen Brüdern anderswo merklich unterscheidet. Dem pariser Arbeiter ist jede Demüthigung erspart, folglich auch jede Erbitterung benommen. Der Groll des Zurückgesetzten ist ihm fremd. Darum

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 281. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_281.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)