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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

„Mutter hat mir gesagt, ich sei schön – ach, könnte ich mich doch überzeugen – sie hat mich nur trösten wollen - -“

„Cäcilie! Mein liebes Kind!“ sagte der Pfarrer, um ihren Ideengang zu unterbrechen, denn er sah die weinende Mutter in dem angrenzenden Gemache, dessen Thür geöffnet war.

Die Blinde schrack zusammen wie eine Nachtwandlerin, die zur Wirklichkeit erwacht.

„Mein Kind, setzen Sie andere Gründe voraus, die eine Annäherung an den Prediger unmöglich machen.“

„Welche?“ fragte sie in furchtbarer Spannung.

„Wenn ihn nun schon Bande der Liebe an eine Gattin, an eine Familie fesselten?“

„Das habe ich nicht bedacht!“ flüsterte sie erbleichend.

„Cäcilie, Gott hat in jedes Menschen Brust die Kraft gelegt, die aufkeimenden Triebe, wenn sie dem Verstande nicht entsprechen, zu unterdrücken. Und wahrlich, es bedarf nur des festen Willens, und der Mensch ist Herr seiner Gefühle.“

„Des festen Willens!“ wiederholte sie mit einer schmerzlichen Bewegung des Hauptes. „Gott weiß, daß ich mit aller meiner Kraft gekämpft habe; aber sie scheiterte mit dem festen Willen an der Gewalt des Gedankens, der mein ganzes Wesen allmächtig beherrschte. Und ich lebe und erfasse die Welt mit dem Gedanken, denn er ist mir, was den glücklichen Menschen das Licht. Ach ja, es gab eine Zeit, wo auch ich glücklich war, die Musik entzückte mich, und kein anderer Wunsch, kein Verlangen regte sich in meiner Seele. Ich glaubte allen Zauber der Empfindungen zu kennen, deren eine menschliche Brust fähig ist. Das war die Zeit meiner ersten Jugend. Doch bald empfand ich eine unbestimmte Sehnsucht, ein hoffendes Verlangen, und die Ahnung eines noch größeren Glückes ward in mir rege. Wie ein süßes Geheimniß, das man nicht zu enthüllen wagt, um den Reiz desselben nicht zu zerstören, lag dieses Glück vor dem Auge meines Geistes. Ich glaubte es zu erfassen; aber dennoch war es ein wunderbares, unauflösliches Räthsel. Da hörte ich die Stimme des Predigers, ein neues Licht entzündete sich in meiner Nacht, und die Lösung war gefunden. Ich empfand ein anderes, zuvor nie gekanntes Glück – aber ein schmerzliches, leidvolles Glück, das sich mit allen seinen Leiden und Freuden vergrößerte, jemehr ich mich seinem Einflüsse zu entziehen suchte.“

„Und dennoch komme ich auf den festen Willen zurück,“ sagte ernst der Pfarrer.

„Zweifeln Sie immer noch daran?“

„Nein! Ihre Phantasie, mein Fräulein, absorbirt die Realität. Tragen Sie Sorge, daß ein umgekehrtes Verhältniß eintritt. Nehmen Sie fest an, der Gegenstand Ihrer Neigung ist für Sie verloren – betrachten Sie die Christnacht als einen Traum, der nichts als eine schöne Erinnerung zurückgelassen hat. Mütterliche Liebe und Freundschaft werden Ihnen die Hand bieten, ein neues Leben zu schaffen.“

Der gute Pastor wollte noch weiter reden, aber er schwieg, als er sah, daß plötzlich eine Leichenblässe Cäcilien’s Gesicht überzog. Wie leblos sanken ihre Hände in den Schooß, und mit bebender, kaum vernehmbarer Stimme flüsterte sie:

„Verloren! Verloren!“

„Cäcilie!“ rief die Mutter, die aufmerksam gelauscht hatte, und nun erschreckt in das Zimmer eilte. „Zu Hülfe, meinem Kinde, meinem armen Kinde zu Hülfe!“

Sie fing die ohnmächtige Tochter in ihren Armen auf. Die Hoffnung, welche die Hofräthin in mütterlicher Verblendung genährt, hatte der Pfarrer, um ein kräftiges Heilmittel anzuwenden, zerstört. Mit Entsetzen sah der Greis die Wirkung seines gutgemeinten Verfahrens.

Nach einer Minute, die den ängstlich Harrenden eine Ewigkeit erschien, schlug Cäcilie langsam die Augen auf.

„Mutter,“ flüsterte sie wie im Traume, „der heilige Weihnachtsabend ist gekommen – klingen von dort herüber nicht die Töne der jubelnden Hymne? Sind das nicht die frohen Stimmen der Kinder, die jauchzend um den strahlenden Christbaum tanzen? Alle Welt freut sich – Mutter, führe mich zur Kirche, daß sich auch Deine blinde Tochter freuen kann! Führe mich, Mutter – ich komme zu spät – der Prediger verläßt die Kanzel! O laß mich seine Stimme hören,“ bat sie in rührenden Tönen, „denn es ist ja Weihnacht, und die arme Blinde will ja auch eine Freude haben! Ich habe viel, viel gelitten – ich habe mich lange nach dem Christabende gesehnt – führe mich, Mutter, dann will ich beten und – wieder dulden!“

„Fasse Dich, mein Kind!“ erinnerte die Mutter, der vor Schmerz das Herz zerspringen wollte.

„Ich kann es, Mutter,“ sagte sie mit einem trübseligen, unheimlichen Lächeln. „Ich kann und will es! Ist es mir gestattet, mit ihm das Christfest zu begehen, so ist er nicht für mich verloren!“

Ein heftiges Zittern bemächtigte sich des zarten Körpers. Dann bebte sie, wie von einem jähen Krampfe durchzuckt, zusammen, und ihr Gesicht nahm den Ausdruck der Bestürzung an.

„Bist Du es, Mutter?“ fragte sie, indem sie die Hofräthin hastig mit den Händen betastete.“

„Deine Mutter ist bei Dir, Cäcilie!“

„Dann hast Du mich wohl belauscht? O glaube meinen Worten nicht,“ rief sie ängstlich „jener lebhafte Traum hatte sich meiner bemächtigt, der mich unablässig verfolgt, sobald ich allein bin. Aber sei getrost, Mutter, es wird noch Alles gut werden! Meinem festen Willen soll es gelingen, den Traum zu bekämpfen.“

„Der Herr Pfarrer, mein Kind –“

„Wo ist er?“ Sie streckte die Hand aus, die der Pastor ergriff. „Ich sehe Sie wieder,“ fuhr sie ängstlich fort. „Dann werden Sie mich heiterer sehen –“

„Verzeihung, Fräulein Cäcilie,“ stammelte der bestürzte Greis.

„Ich bin krank, Mutter – ein leichtes Frösteln durchbebt mich. Aber beruhige Dich – es ist nichts – morgen bin ich wieder hergestellt.“

Eine Glocke rief die Kammerfrau herbei. Man brachte die Blinde zu Bette und schickte nach dem Arzte, der zufällig in dem Dorfe wohnte, ein geschickter, erfahrener Mann und langjähriger Freund des Pfarres. Er kam und traf seine Verordnungen. Er tröstete die Mutter und versprach später noch einmal wiederzukommen. „Vielleicht ist eine heilsame Krisis eingetreten,“ fügte er tröstend hinzu.

Die beiden Männer verließen das Schloß. Pastor Braun hielt es für Pflicht, dem Arzte die erforderlichen Mittheilungen zu machen.

„Ich habe gleich ein moralisches Leiden erkannt,“ meinte der Doctor. „Aber es muß tief Wurzel gefaßt haben, daß es den Körper so erschüttern konnte. Bildet sich diesmal kein nervöses Fieber aus, so fürchte ich eine langwierige, schleichende Krankheit, die langsam und sicher zerstört, wenn der Grund des Leidens nicht zeitig beseitigt wird.“

„Auch mir ist das klar geworden,“ meinte der Pfarrer. „Die Blinde ist jung, schön und reich – mit diesen drei Mitteln hoffe ich zum Ziele zu gelangen, wenn nicht geradezu eine Unmöglichkeit vorliegt. Sorgen Sie für den Körper, ich werde für das Gemüth sorgen.“

Die beiden Freunde trennten sich. Der Pastor fürchtete für den Verstand der jungen Blinden, obgleich er sich darüber nicht aussprach, und nachdem, was er erlebt, hatte er auch in der That Grund dazu. Indem er noch einmal Alles überdachte, was Cäcilie gethan und gesprochen, hielt er es selbst nicht für unwahrscheinlich, daß sich bei ihr bereits ein gewisser Grad von Monomanie ausgebildet habe.

„Und wenn ich nun wirklich den Prediger ermittele,“ fragte er sich, „wenn er wirklich noch unverheirathet ist – wird er sein Leben an das eines blinden und dabei des Verstandes nicht mächtigen Mädchens fesseln? Kann er das arme Mädchen lieben? Er muß entweder ein armer Mensch sein, der durch die Heirath seine Zukunft zu sichern gezwungen ist, oder ein Spekulant, der mit dem Vermögen der Hofräthin ein Geschäft zu machen gedenkt. In beiden Fällen ist Cäcilie zu beklagen. Die Klugheit gebietet, daß ich mit der größten Vorsicht zu Werke gehe. Niemand darf ahnen, warum ich nach dem Prediger forsche; auch er selbst darf nichts wissen, bevor ich nicht Näheres über seinen Charakter und seine Lage weiß. Die Angelegenheit ist sehr delicat, ich habe eine schwierige Aufgabe zu lösen.“

„Vater,“ rief Concordia, als der Greis in sein Zimmer trat, „es ist ein Brief vom Vetter Arnold angekommen!“

„An wen ist er gerichtet?“

„An mich!“ sagte stolz das junge Mädchen.

„Dann darf ich ihn wohl nicht lesen?“ fragte der Pfarrer, der eine Correspondance der Zärtlichkeit voraussetzte.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 619. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_619.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)