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Hülfsleistungen erhielten, zeigen im spätern Leben gewöhnlich Schwäche und Unsicherheit des Charakters. – Das Reinlichsein des Kindes in Bezug auf seine Ausleerungen kann demselben von der Zeit an, wo es aufzusitzen vermag, dadurch allmälig angewöhnt werden, daß man dasselbe in bestimmten Zwischenräumen auf ein Nachtgeschirr setzt und ihm laute Aeußerungen des Pressens vormacht. Das Abhalten des Kindes im Freien, wobei die untere Körperhälfte entblößt wird, giebt nicht selten zu Erkältungen des Bauches und gefährlichen Durchfällen Veranlassung.

Für die geistige Erziehung des Säugling, die wie die körperliche auf Gewöhnung beruht, handelt es sich hauptsächlich darum, die Sinnesorgane desselben in gesundem Zustande zu erhalten und gehörig auszubilden. Denn erst mit Hülfe der Sinne, besonders des Gesichts- und Gehörsinnes, wird allmälig die Thätigkeit des Gehirns, das Bewußtsein, das Gefühl, der Verstand und der Wille, kurz der Geist erweckt und immer mehr ausgebildet. In der ersten Zeit seines Lebens ist der Mensch, eben weil die Hirnthätigkeit durch Sinneseindrücke noch nicht erweckt ist, ohne alles Bewußtsein und seine Bewegung, sein Schreien ist rein automatisch; nach und nach erst bildet sich durch wiederholte Eindrücke auf die Empfindungsnerven, also durch Gewöhnung, das Behaglichkeits- und Unbehaglichkeitsgefühl (Gemeingefühl). Es dauert lange, ehe das Kind die Einzeleindrücke zu unterscheiden lernt. Ueber die Zunge des Säuglings muß erst einige Zeit die süße Muttermilch geflossen sein, ehe er sie als angenehm schmeckt, vorher nimmt er eben so leicht die bittersten Stoffe, wie die Brust der Mutter. Gerade so verhält es sich mit allen andern Empfindungen und man hat es deshalb in der Hand dem Kinde durch Gewöhnung eine Menge von Empfindungen zum Bedürfnisse zu machen, die wenn sie dann einmal nicht erregt werden, das Kind zum boshaften Schreien und Erzwingen des Gewünschten antreiben. – Von den Sinnen entwickelt sich zuerst der Tastsinn, aber nur an den Lippen, womit diese die Mutterbrust suchen, sodann erwacht der Gesichtssinn, nach diesem der Gehör- und Geschmackssinn, zuletzt der Geruchs- und Tastsinn. Das Auge (bis etwa zum vierten Monate kurzsichtig) starrt anfangs theilnahmlos in die Welt, bald wendet es sich aber nach dem Hellen und zeigt einige Aufmerksamkeit, bis es im zweiten Monate auf Gegenständen längere Zeit haften bleibt. Dieses Anschauen ruft im Gehirn die ersten Sinneseindrücke (Hirnbilder) hervor, welche sich durch wiederholtes Anschauen immer tiefer einprägen und dadurch leicht in’s Gedächtniß zurückgerufen werden können. So lernt das Kind Personen und Gegenstände kennen und endlich sich Vorstellungen machen (d. i. das Bewußtwerden, Erinnern von früher gemachten Sinneseindrücken). In ähnlicher Weise verhält es sich mit dem Gehör; anfangs wird das Kind nur durch starken Schall erschüttert, allmälig unterscheidet es stärkere und schwächere Töne und etwa gegen das Ende des zweiten Monats, wendet es seine Augen und später auch den Kopf nach der Richtung, von welcher der Schall herkommt. Gegen das Ende des fünften Monats hin ist zwischen den beiden Sinnen des Gesichts und Gehörs die Aufmerksamkeit des Kindes gleich getheilt; beide Sinne unterstützen übrigens einander beim Kennenlernen der Außenwelt, besonders auch der Entfernung; der eine Sinn erregt die Aufmerksamkeit des Kindes für den andern. Jetzt nimmt auch das Kind immer mehr Interesse an Gesichts- und Gehörserscheinungen, am Beweglichen, am Sprechen, am Takt und Gesange. Es lernt die Geberden, Mienen und die Stimme der Mutter und umgebenden Personen kennen und unterscheiden. Während früher lärmende Töne mehr Eindruck auf das Gehör machten als melodische, ist dies jetzt umgekehrt. Ist der Gesichtssinn bis zum Anschauen gelangt, dann fängt (im dritten Monate) das Kind auch an nach Gegenständen zu greifen; diese verfehlt es zuerst öfters, faßt sie anfangs nur an, später hält es dieselben fest, bewegt sie hin und her und lernt sie allmälig zum Munde führen; endlich betastet es dieselben und lernt so deren Größe und Form, so wie ihre Entfernung kennen. Sobald sich (im dritten Monate) Gehörsvorstellungen gebildet haben, zeigt sich das Lallen, welches später in das Nachahmen von Worten übergeht. Vernimmt das Kind öfters bei dem Anblicke eines Gegenstandes oder beim Wahrnehmen einer Eigenschaft und Thätigkeit einen gewissen Laut, so wird allmälig durch das Hören desselben Lautes die Vorstellung desselben Gegenstandes hervorgerufen und so lernt das Kind (im fünften oder sechsten Monate) bestimmte Worte nach ihrer Bedeutung verstehen, besonders die Namen von Personen und Dingen. Erst später lernt es die Bedeutung der Zeit und Eigenschaftswörter kennen, eine zusammenhängende Rede ist ihm ganz unverständlich. Das Lächeln bemerkt man schon im zweiten Monate (nie aber vor dem vierzigsten Tage) und stets früher als das Weinen mit Thränen (im dritten Monate); erst im fünften oder sechsten Monate lacht das Kind laut und jubelt. Kinder, die durch sofortige Befriedigung ihrer Wünsche, wenn sie schreien, nach und nach zur Bosheit erzogen wurden, suchen durch Schreien und Weinen ihren Willen durchzusetzen und das Gewünschte zu erzwingen. Schon im fünften oder sechsten Monate merkt das Kind die Freundlichkeit, wie auch den Ernst der Worte und Geberden; es lernt warten, wird geduldiger und läßt sich durch Sinneseindrücke vom körperlichen Genusse eine Weile abziehen. Im siebenten oder achten Monate spielt das Kind für sich und beschäftigt sich mit dem Nachahmen. Durch die Unlust, welche durch das Gefühl eines Mangels erzeugt, durch Abhülfe des letztern ihr Ende findet, durch die Beobachtung, daß auf bestimmte Thätigkeiten bestimmte Wirkungen folgen, ja daß das Kind selbst im Stande ist, dergleichen hervorzubringen, kommt es allmälig zur dunkeln Vorstellung eines Zweckes, der Zeitfolge und Dauer. Je mehr nun das Kind das Bewegungsvermögen in seine Gewalt bekommt, desto mehr bildet sich auch die Sprache aus und das Kind benennt die Dinge anfangs in seiner Weise, später durch Nachahmung so, wie es ihm vorgesagt wird. Die weitere Ausbildung der Sprache wird nur durch das Hören der Redenden und die Nachahmung ihrer Worte bedingt.

Die Hauptregel bei der geistigen Erziehung des Säuglings, so wie überhaupt des Kindes, ist: Alles vom Kinde abzuhalten, an was es sich nicht gewöhnen soll, dagegen das was ihm zur andern Natur werden soll, beharrlich zu wiederholen. Es darf der Laune des Kindes nach ungebundener Willkür niemals freier Lauf gelassen, sondern es muß ein Gesetz beobachtet werden, nach welchem sich die vernünftige Gewährung des Einen und das Versagen des Andern richtet; dann wird das Kind nach und nach ein Gefühl vom Gesetz gewinnen, dem sich unterzuordnen Nothwendigkeit ist. Hierbei läßt sich auch, und zwar mit dem besten Erfolge, bei Kindern, deren Naturell zu lebhafterem Thun und schwerem Angewöhnen hintreibt, sogar das Gefühl der Unbehaglichkeit (schon vom dritten Monat an) benutzen und Manches sehr leicht durch ernste Worte und passende Schläge erreichen, was sonst nur schwer und erst nach langer Zeit angewöhnt werden kann. Man bedenke, daß hier die Schläge nicht zur Bestrafung von schon vorhandenen Fehlern, sondern zum Nichtangewöhnen von Eigenheiten, welche später Strafe verdienen, angewendet werden. Ein Kind, was nach dem Erwachen des Selbstbewußtseins, nach dem dritten oder vierten Jahre, überhaupt zu einer Zeit, deren es sich im spätern Leben noch deutlich entsinnen kann, Schläge bekommen muß, ist nach des Verfassers Ansichten ein schon ganz verzogenes und nur die unbeugsamste Consequenz in der Erziehung wird dann dasselbe noch zu bessern vermögen. Darum achte man auf die kleinsten Züge, in denen sich das Naturell des Kindes erkennen läßt. Der Grund zur Verziehung des Kindes wird in der Regel durch das Herumtragen, Schaukeln und Wiegen desselben gelegt, weil diese Bewegungen im Kinde ein Behaglichkeitsgefühl erzeugen, welches wenn es einmal nicht befriedigt wird, dasselbe zum Schreien veranlaßt. So entwickele sich nach und nach beim Kinde die Gewohnheit durch Schreien seine Wünsche zu erzwingen und es kommt dann, wenn die Aeltern so schwach sind dem Eigensinne des schreienden Kindes nachzugeben, recht bald dahin, daß das Kind bei jeder Verweigerung seines Willens trotzt, starrt und unbändig wird. Jetzt soll nun erst mit Schlägen eine Unart aus dem Kinde vertrieben werden, die in Folge verkehrter Erziehung sich bilden mußte. Verdienten nicht weit mehr die Aeltern diese Schläge? Nur aus solchen Erziehungsfehlern in der ersten Lebenszeit des Kindes geht gewöhnlich die Charakterverderbniß hervor, die später die Kinder und Aeltern unglücklich macht. – Gewöhnung ist sonach die Hauptmacht bei der Erziehung; unterstützt wird sie durch den Nachahmungstrieb des Kindes. Viel kann der Mensch entbehren, nur den Menschen nicht. Freundlichkeit in der Stimme und Miene, im Blicke und überhaupt im ganzen Benehmen der Umgebung gegen das Kind, übt einen großen Einfluß auf die Entwickelung des Gemüthes im Kinde aus und deshalb ist bei der Wahl der Wärterin desselben große Vorsicht anzuwenden. Erziehen die Aeltern von mehreren

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 623. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_623.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)