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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

mir sagte, ist Franz einer der gefährlichsten Volksaufwiegler, er hat selbst an einem Straßenkampfe thätigen Antheil genommen, er, der ausgetretene Offizier – man macht ihm jetzt den Prozeß, und wie dieser ausfallen wird, läßt sich denken. Fürchten Sie nichts, Mutter, indem der Staat sich eines gefährlichen Feindes entledigt, leistet er auch uns einen großen Dienst. Es ist nur zu bedauern, daß sein Prozeß gerade hier anhängig gemacht wird.“

Ein Diener trat ein und meldete, daß der Mittagstisch bereit sei. Robert führte seine Mutter in das Speisezimmer.

„Wo ist Demoiselle Helene?“ fragte sie den Diener.

„Sie ist unwohl, und läßt ihre Abwesenheit entschuldigen.“

„Die durchwachte Nacht hat das gute Kind angestrengt!“ sagte die Mutter zu dem Sohne.

Nach Tische fuhr sie allein zu dem Präsidenten. Robert schrieb einen langen Brief an den Geschäftsführer in Hamburg. Mit dem Beginne der frühen Dämmerung verließ Helene, fest in einen Mantel gehüllt und das Gesicht tief verschleiert, das Haus der Commerzienräthin. Sie achtete des stürmischen Schneewetters nicht; hastig eilte sie durch die Straßen.


IV.

Um dieselbe Zeit zog ein Mann an dem schweren Glockenzuge eines großen, finstern Gebäudes, das einsam zwischen den letzten Häusern des westlichen Stadttheils lag. Gleich darauf ward die Pforte eines großen, mit Eisenstäben beschlagenen Thores geöffnet, vor dem eine Schildwache langsam und schweigend auf- und abging. Der Mann trat in eine Bogenhalle, deren dunkles Gemäuer bei dem Scheine einiger Gasflammen von angesetztem Eise blitzten. Er durchschritt diese Halle und trat in einen Hof, der rings von hohen, finstern Gebäuden eingeschlossen ward. Rechts zeigten aufgestellte Gewehre und ein Posten an, daß sich hier eine Wache befand.

„Wohin?“ fragte der Soldat.

„Zu dem Inspektor des Staatsgefängnisses.“

Der Soldat deutete ihm die Wohnung desselben an, und der Mann, indem er seinen Mantel fester anzog, trat in eine Thür, erstieg eine Treppe und gelangte auf einen freundlichen Corridor. Er mußte hier schon bekannt sein, denn ohne zu wählen, klopfte er an eine Thür. Im nächsten Augenblicke stand er vor einem greisen Militär, der ihn ernst und gemessen, aber freundlich empfing.

„Herr Advokat Petri,“ sagte er, „was verschafft mir so spät noch das Vergnügen, Sie in meinem finstern Reiche zu begrüßen?“

Der Advokat, ein Mann von vielleicht zweiunddreißig Jahren mit einem weißen, fein geschnittenen Gesichte, großen, lebhaften Augen und einem kurzen, schwarzen Backenbarte, legte zwanglos seinen beschneeten Hut auf einen Stuhl.

„Herr Major,“ sagte er, „ich komme so eben aus der Wohnung des königlichen Staatsanwaltes, den ich leider nicht antraf, weil er sich in Gesellschaft befindet. Sie kennen meine geschäftlichen Beziehungen zu ihm, und darum werden Sie ermessen, daß er mir die Erlaubniß, einen politischen Gefangenen zu besuchen, nicht verweigern würde. Gestützt auf meine Stellung als öffentlicher Advokat und Notar, der vor den Schranken des Geschwornen-Gerichts nicht unbekannt ist, richte ich an Sie die Bitte, mir den Zutritt zu einem Gefangenen zu gestatten – die Erlaubniß des Staatsanwalts glaube ich verbürgen zu können.“

„Sie fordern viel, mein Herr!“ sagte ernst und bedächtig der Greis.

„Ich weiß es; wenn ich aber noch hinzufüge, daß ich der Vertheidiger des Gefangenen sein werde –“

„Ihre Vollmacht?“

„Ich stehe im Begriffe, sie mir zu holen. Sie erinnern sich, daß dieser Fall zum ersten Male stattfand, als ich Ihren Sohn, der jetzt in Amerika lebt, vor dem ersten Schwurgerichte vertheidigte. Daß ich die Schranken der Gesetzlichkeit nicht überschreite, wissen Sie.“

„Wer ist der Gefangene?“

„Franz Osbeck, ein Kamerad und Gesinnungsgenosse Ihres Sohnes. Sie dienten Beide als Offiziere bei einem Jägerregimente.“

„Er ward in verflossener Nacht verhaftet!“ murmelte der Greis. „Ich erfuhr es diesen Mittag durch den Polizei-Commissar.“

„Muß der Besuch heute noch stattfinden?“

„Der Gefangene weiß nicht, daß ich in der Residenz Advokat bin – wie kann er mich zu seinem Vertheidiger wählen? Außerdem muß ich erfahren, in wie weit er gravirt ist, denn habe ich keine Aussicht auf einen günstigen Erfolg meiner Bemühungen, so bin ich gezwungen, ihn seinem Schicksale zu überlassen.“

Der Major überlegte einen Augenblick, dann sagte er, nicht ohne einige Ueberwindung:

„Da mir nur die sichere Verwahrung des Gefangenen obliegt, glaube ich keine Pflichtverletzung zu begehen, wenn ich Ihnen Franz Osbeck auf eine halbe Stunde anvertraue.“

Er zog eine Glocke. Eine Ordonnanz trat ein. Der Major, der eine Liste durchgesehen hatte, sagte:

„Man gebe dem Schließer Befehl, diesem Herrn die Zelle Nro. 11 zu öffnen.“

Nach einigen Höflichkeitsphrasen verließ der Advokat den Major. Der Soldat führte ihn in einen andern Flügel des Staatsgefängnisses, und bald ward ihm die bezeichnete Zelle geöffnet. Mit der Laterne des Schließers in der Hand, überschritt er die Schwelle eines kleinen, viereckigen Gemachs, aus dem ihm eine angenehme Wärme entgegenquoll, zugleich aber auch jene eigenthümliche Luft, die man nur in Gefängnissen vorfindet. Nachdem er die Thür hinter sich geschlossen, blieb er ruhig stehen. Franz lag völlig angekleidet auf einem Matratzenbett. Er hatte den Kopf auf die Hand gestützt, und schien den Eintretenden kaum zu bemerken. Eine unheimliche Stille herrschte in dem Raume; selbst der Sturm, der den Schnee an das kleine mit starken Eisenstäben vergitterte Fenster trieb, war nur wie das Rauschen eines fernen Flusses zu vernehmen.

„Er ist's!“ flüsterte der Advokat, von dem Anblicke des bleichen Gefangenen tief ergriffen.

Franz schlug endlich die Augen auf. Als er den Fremden mit der großen Laterne des Kerkermeisters erblickte, richtete er sich verwundert empor.

„Ich habe um Licht gebeten,“ sagte er. „Bringen Sie mir endlich das Verlangte?“

„Franz! Franz!“ rief der Advokat, indem er sich ihm näherte und die Laterne auf einen Tisch setzte.

Der Gefangene saß wie erstarrt auf seinem Bette. Er schien in dem Gedächtnisse nach dem Manne zu forschen, der so theilnehmend seinen Namen ausgesprochen.

„Mein Gott, täuscht mich ein Traum?“ fragte er sinnend.

„Nein, armer Franz, die traurige Wirklichkeit empfängt Dich, und Julius Petri – –“

Der Gefangene stieß einen durchdringenden Schrei aus.

„Julius, Julius!“ rief er mit einem unbeschreiblichen Ausdrucke. Und zugleich flog er an die Brust des Freundes, der seine Arme ausbreitete, und die bebenden Lippen des Gefangenen mit Küssen bedeckte. Wahre, innige Freundschaft bewegte die Brust der beiden Männer, daß sie auf Augenblicke den verhängnißvollen Ort ihres Wiedersehens vergaßen.

„Ich ziehe Dich zu mir auf das elende Lager eines Gefangenen,“ sagle Franz. „Aber ich bin kein Verbrecher,“ fügte er schmerzlich hinzu; „Du kannst mir ohne Bedenken die Freundeshand reichen. Mein Sinn war zu frei, Julius, und deshalb mußte man ihn in diese engen Kerkermauern zwängen.“

„Erspare Dir jede Rechtfertigung, armer Freund! Ich bin gekommen, um Dir die Hand, die alte, treue Rechte zu bieten. Und wenn ich nach dem Grunde Deiner Gefangenschaft frage, so geschieht es nur, um mich zu informiren, daß ich die rechten Mittel zu Deiner Rettung wählen kann.“

„Zu meiner Rettung? Zu meiner Rettung?“ rief Franz schluchzend. „Julius, Du weißt, daß ich kein Feigling bin, daß ich mehr als ein Mal dem Tode die Stirn geboten – aber halte mir die Thränen zu Gute, die mir jetzt der Gedanke an die Freiheit erpreßt, schilt mich nicht feig, wenn ich jetzt vor dem Tode, selbst vor einer langen Gefangenschaft zittere. Mein Herz ist mit Banden an das Leben gefesselt, die ich weder den Muth noch die Kraft besitze, zu zerreißen. Nicht um zu athmen, um die Freuden des Daseins zu genießen, will ich leben; sondern um zu lieben, um der frei anzugehören, die allein mein Leben ausmacht. Du kennst sie, Julius, Du selbst mußtest sie achten und lieben –“

„Helene!“ murmelte der Advokat. „Ihretwegen verlohnt es sich der Mühe, zu leben.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_019.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)