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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

„Du kennst sie,“ fuhr Franz wie begeistert fort, „Und von diesem Engel an Schönheit und Tugend reißt mich eine menschliche Gewalt, die Macht der Verhältnisse, denen ich im Uebermuthe meines Glückes spottete. Helene hängt an mir in treuer Liebe, sie leidet, wenn ich leide, und sie ist glücklich, wenn ich glücklich bin. Mit einem Muthe, den ich Verwegenheit nennen muß, reiste ich durch das Land, in dem man nach mir fahndet. Ich trotzte den Gefahren, die sich mir überall entgegenstellten, und schon glaubte ich mich dem Ziele, der freien Schweiz, nahe, als mich mein Verhängniß ereilte.“

„Du wolltest nach der Schweiz,“ fragte verwundert der Advokat, „und nimmst diesen Weg, da es Dir doch freistand, einen minder gefahrvollen zu wählen?“

„Ich mußte es, Julius. Nach der unglücklichen Wendung der Dinge gelang es mir, nach Holland zu flüchten. Ich durfte Helene nicht mit mir nehmen, wenn ich sie nicht des Elendes eines armen Flüchtlings theilhaftig machen wollte. Von Amsterdam aus, wo ich am Hafen durch Lasttragen mein Brot kärglich verdiente, unterhielt ich einen Briefwechsel mit ihr. Wie gern wäre sie mir gefolgt, wenn sie die Mittel zur Reise gehabt hätte. Ich verdoppele meine Anstrengungen, um diese zu erschwingen. Tag und Nacht arbeitete ich am Hafen, und dabei nährte ich mich von trocknem Brote, um die Kosten meiner Existenz zu verringern. Meine Börse ward täglich schwerer, aber mein Körper, Julius, ward täglich hinfälliger, bis ich nach einiger Zeit auf das Krankenlager sank. Trostlos und jammernd lag ich in meiner elenden Dachkammer, und das sauer erworbene Geld verschlang die Krankheit wieder. Da kam ein Brief von Helenen, sie schrieb mir, daß sie mit einer englischen Familie, die sie zufällig kennen gelernt, nach Zürich gereist sei. Bei allen Heiligen beschwor sie mich, die Reise zu ermöglichen, und ihr in das freie Land zu folgen. Wenn Du diesen Brief erhältst, schloß sie, bin ich bereits unterwegs. Ich habe keinen Augenblick gezögert, das Anerbieten der liebenswürdigen Lady Lindsor anzunehmen, da ich in dieser Reise die einzige Möglichkeit unserer baldigen Wiedervereinigung erblicke. Ich bin so eine arme Waise, die nichts an die Heimath fesselt, die seit Deiner Entfernung nicht einmal eine Heimath mehr hat. Ach, Julius, dieser Brief entzückte mich, aber er schmetterte mich auch danieder. Meine Krankheit artete in ein schleichendes Fieber aus, es vergingen Wochen, selbst Monate, und ich konnte nicht an die Reise denken. Da ich Helene’s Adresse nicht wußte, war es mir auch unmöglich, ihr den traurigen Behinderungsfall mitzutheilen. Du kannst Dir meine peinliche Lage denken. Der Sommer und der Herbst verfloß, ehe meine Gesundheit zurückkehrte. Meinem Arzte, einem wackern Holländer, hatte ich mich anvertraut, und seiner Großmuth verdanke ich es, daß ich Geld, anständige Kleider und einen holländischen Paß erhielt. Die Krankheit hatte mich um zehn Jahre älter gemacht, und darauf bauend, daß man mich nicht so leicht erkennen würde, reiste ich wohlgemuth nach R., um zu sehen, ob Helene zurückgekehrt sei. Von einer ihrer Freundinnen erfuhr ich denn, daß sie sich noch in Zürich befinden müsse, da man sie seit dem Juni nicht wieder gesehen habe. Was war wohl natürlicher als die Annahme, daß sie dort meiner wartete? Ich reiste von R. ab, den kürzesten Weg nach der Schweiz wählend. Auf einer Poststation fiel mir die Staatszeitung in die Hände, und zu meinem nicht geringen Erstaunen fand ich darin die Anzeige, daß die Wittwe Simoni aus Hamburg das Bürgerrecht in der Residenz erworben und für ein bedeutendes Geschenk, das sie der Stadtarmenkasse gemacht, den Titel einer Commerzienräthin erhalten habe. Ich lebte nicht gerade in offener Feindschaft mit der Schwester meines Vaters, deshalb beschloß ich, da meine Kasse erschöpft war, die Residenz zu berühren, wo mich Niemand kannte, und bei meiner Tante um eine Summe nachzusuchen, mit deren Hülfe ich nicht nur das Ziel meiner Reise erreichen, sondern auch den Grund zu einer bescheidenen Existenz legen konnte. Die reiche Wittwe, dachte ich, hat die Armenkasse beschenkt, sie wird den armen Neffen, dessen Vermögen sie besitzt, nicht ohne Unterstützung von sich weisen. Ich kam in der Sylvesternacht hier an. In dem Hotel fragte ich nach der Wittwe Simoni, erfuhr ihre Wohnung, und daß sie einen glänzenden Ball gäbe. Es war nicht schwer, das Haus zu finden, ich sprach meine Tante, bat, flehte, und – ward abgewiesen.“

„Das ist mehr als grausam!“ sagte entrüstet der Advokat. „Hätte man Dir das Vermögen Deines Vaters zukommen lassen, ich zweifle nämlich nicht einen Augenblick an der Rechtmäßigkeit Deiner Forderung – Du wärst heute sicher in andern Verhältnissen. Man will Dich verderben, armer Freund, der Erbe des Compagnons muß so bei Seite geschafft werden. Das Ende Deiner Geschichte kenne ich nun: von R. aus, wo man Dich gesehen und erkannt, wurdest Du verfolgt. Ehe Du hier ankamst, vigilirte die Polizei auf Dich, und es konnte nicht schwer werden, Dich zu ermitteln.“

„Du weißt noch nicht Alles, Julius.“

„Nun?“

„Die reiche Wittwe, die der Armenkasse Geschenke macht, rief durch eine Glocke nach ihrer Gesellschaftsdame – denke Dir meinen freudigen Schrecken, als ich Helenen eintreten sah!“

„Ist’s möglich, Helene?“

„Sie befindet sich in dem Hause meiner Tante. Wie sie dorthin gekommen, weiß ich nicht. Ach, ich hätte ihr mögen zu Füßen fallen, denn sie erschien mir wie ein lichter Engel in der Nacht meines Elends. Aber ein Blick von ihr, den ich verstand, hielt mich zurück. Zugleich deutete sie auf die weiße Rose an ihrer Brust, das letzte Geschenk meiner Liebe. An ihrem Arme verschwand das sorglose Weib aus dem Zimmer – die Thür schloß sich hinter meinem Teufel und meinem Engel. Julius, ich war meiner Sinne nicht mehr mächtig, und was ich nun mit Robert, meinem Vetter, verhandelte, weiß ich nicht mehr. Ich dachte nur an das Glück, mit ihr zu entfliehen, es gab keine Vergangenheit mehr für mich, die Zukunft war mir Alles – da trat die Gegenwart mit ihrem ganzen furchtbaren Gewichte dazwischen – ich ward verhaftet und fortgeschleppt. Als ich aus meiner Betäubung erwachte, befand ich mich im Gefängnisse.“

„Armer Freund!“ seufzte der Advokat.

„Fast möchte ich glauben,“ sagte Franz mit einem schmerzlich bittern Lächeln, „daß ich meines Verstandes nicht mächtig bin, wie die Wittwe behauptete, als ich das Vermögen meines Vaters beanspruchte. Mein Kopf ist wüst, ich kann mir aus dem Chaos von Begebenheiten keinen Begriff gestalten, und Lebensüberdruß kämpft mit der Sehnsucht nach dem Leben.“

(Fortsetzung folgt.)




Pariser Bilder und Geschichten.

Beranger.

Ist man allzusehr angewidert von dem pariser Leben, von dem Geschrei auf dem Markte, wo Gewissen zu Dutzenden feilgeboten werden, wo Jeder sein ernstes oder komisches Stück spielt, um sich geltend und Geld zu machen, wo Ehrgeiz und Habsucht, Lüge und Unnatur unter verschiedenen Masken um die Wette laufen und drängen, wo jedes Stückchen Vorzug an Leib und Seele geschmückt und aufgeputzt als Aushängeschild benutzt und ausgebeutet wird, wo Jeder nach seiner Art, der eine mit den Händen, der Andere mit den Füßen, Der mit dem Kopfe, der Andere mit dem Herzen, der Eine mit der Feder, der Andere mit dem Pinsel, um das goldene Kalb, den Götzen des Jahrhunderts, tanzt; bedarf man der Erholung, der Beruhigung, der Läuterung, so findet man sie, wenn man das Glück hat, Beranger, den Lieblingsdichter des französischen Volkes, besuchen zu können. Da findet man einen Greis von 74 Jahren mit der Frische des Geistes, mit der Einfalt des Herzens wie ein Kind, der lächelnd zurückblickt auf sein langes inhaltreiches Leben, das spiegelrein und spiegelhell, unberührt von all den schmutzigen Einflüssen geblieben, welche es unausgesetzt belagert. In dieser Wohnung weht es Einem so friedlich, so wohlthuend an. Man glaubt es zu fühlen, daß hier den schlimmen Gästen draußen, all’ den Gelüsten und Begierden, der Einlaß streng versagt wurde. Es fällt Einem das Lied

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_020.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)