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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

der Nerven und nach der Empfindlichkeit des Bewußtseinsorganes muß natürlich die widernatürliche Empfindung oder der Schmerz verschieden wahrgenommen werden. Ist z. B. das Gehirn berauscht und eingenommen (durch Krankheiten, Gemüthseindrücke, Spirituosa, Schwefeläther, Chloroform, Opium u. s. w.), dann machen Reizungen und Verletzungen von Gefühlsnerven weit geringere Schmerzen als dies bei freiem Gehirne der Fall wäre und vollkommene Bewußtlosigkeit zieht auch totale Schmerzlosigkeit nach sich, während krankhafte Empfindlichkeit des Gehirns ganz gewöhnliche Eindrücke schon als Schmerz empfinden läßt. Daher kommt es denn, daß in der Schlacht starke Verletzungen in Folge des Gemütszustandes bisweilen kaum gefühlt werden und daß Betrunkene oder Chloroformirte fast oder ganz empfindungslos sind, daß durch Opium heftige Schmerzen gemindert und gehoben werden können, und daß Kranke, deren Bewußtsein durch irgend welche Gehirnaffection gestört ist, ihren sonst sehr schmerzhaften Krankheitszustand nicht wahrnehmen. Ebenso muß aber auch der Mensch, so lange in seinem Gehirne das Bewußtsein noch nicht ausgebildet ist (denn dieses entwickelt sich nur ganz allmälig), sonach in der frühesten Jugend und bei Hirnmangel, empfindungs- und schmerzlos sein. Man lasse sich hierbei nur nicht durch die Schmerzensbewegungen (Schreien, Zucken, Strampeln, Begreifen, Umsichschlagen etc.) beirren, denn diese geschehen hier vermöge der eigenthümlichen Nerveneinrichtung (in Folge der Anregung bewegender Nerven von Seite der gereizten Empfindungsnerven) ganz unwillkürlich und bewußtlos (d. s. unbewußte Reflexbewegungen). – Auch der Zustand der Empfindungsnervenfäden, welcher von der Ernährung und Behandlung derselben abhängig ist, hat großen Einfluß auf das Gefühl und den Schmerz. Je besser nämlich ein solcher Faden leiten kann, desto schneller und stärker wird die Reizung zum Gehirne geschafft, während bei schlechter Leitungsfähigkeit des Nerven die Empfindung nur schwach und matt wahrgenommen wird. Im erstern Falle, wo heftigere Schmerzen zu Stande kommen müssen, spricht man von großer, im letztern von geringer Reizbarkeit der Nerven; nach beider Richtung hin kann die Reizbarkeit ausarten und enorm gesteigert oder gelähmt erscheinen. Da nun bei verschiedenen Menschen die Leitungsfähigkeit oder die Reizbarkeit der Nerven und die Empfänglichkeit des Gehirns sehr verschieden ist, so wird dieselbe Reizung von Verschiedenen auch ganz verschieden empfunden werden müssen, Einer fühlt den Schmerz nicht so wie der Andere – Daß sich nach der Art der Reizung auch die Beschaffenheit der Empfindung und der Grad des Schmerzes richten muß, versteht sich wohl von selbst; ein Mückenstich schmerzt weniger als ein Messerschnitt und Sonnenstrahlen brennen nicht so wie glühende Kohlen.

In Folge der Gewohnheit (welche bei der Entwickelung und Ausbildung des Nervensystems die größte Rolle spielt), oft aber auch noch mit Zuziehung anderer Sinne, lernen wir allmälig Empfindungen oder Schmerzen, die wir durch das Gehirn wahrnehmen, an die Stelle zu versetzen, wo sie erregt werden. Dies ist nun aber in der Regel am Endpunkte des Empfindungsnervens und wir meinen deshalb später aus Gewohnheit, selbst wenn dieser Nerv an einer ganz andern Stelle seines Verlaufes vom Gehirn bis zu seinem (peripherischen) Ende gereizt, ja wenn er sogar sammt dem Theile, in welchem er endigte, ganz abgeschnitten wurde, wir meinen doch, daß die die Empfindung oder den Schmerz erregende Reizung an jenem Endpunkte seinen Sitz hätte. So bedingt z. B. Reizung desjenigen Nervens, welcher am kleinen Finger endigt, Schmerz in diesem Finger auch wenn jener Nerv in der Ellenbogengegend gereizt wurde. Deshalb also die eigenthümliche Empfindung im vierten und kleinen Finger, wenn man sich an den Ellenbogen (an das Mäuschen) stößt. Aus demselben Grunde können Amputirte noch nach Jahren Schmerz im abgeschnittenen Gliede bei Reizung solcher Nerven empfinden, die in diesem Gliede endigten. Zur bessern Verständigung dieser Thatsache denke man sich einen Telegraphendraht (Nervenfaden) zwischen zwei Stationen (dem Gehirn und irgend einem Körpertheile) ausgespannt; wird der Telegraph auf der einen (Körper-) Station in Thätigkeit gesetzt, so weiß der Telegraphist auf der andern (Hirn-) Station in Folge der Erfahrung und Gewöhnung, daß eine Nachricht von jener Station aus geschickt ist. Er würde dies aber auch dann noch glauben müssen, wenn der Apparat ohne sein Wissen von der (Körper-) Station weggenommen und an einer ganz andern Stelle (Zwischenstation) desselben Drahtes angebracht worden wäre. Ja er würde diese Veränderung, wenn er sich durch langjähriges Telegraphiren an bestimmte Stationen gewöhnt hätte, sehr oft vergessen und meinen, die Nachricht käme noch von der früheren, vielleicht ganz eingegangenen Station. Oder man denke sich einen Klingelzug aus der dritten Etage direkt herabgeführt zum Hausmanne; dieser, mit der Einrichtung des Zuges bekannt, müßte stets glauben, es würde in dieser Etage geklingelt, auch wenn Jemand im zweiten oder ersten Stocke an der Klingelschnur zöge; würde dies aber öfters oder später stets vorfallen, dann würde er natürlich nicht mehr irre geleitet werden können. Im menschlichen Körper werden nun durch Krankheitsprozesse sehr oft Nerven nicht an ihrem Endpunkte, sondern an irgend einer Stelle ihres Verlaufes gereizt und deshalb finden sich gar nicht selten an äußerst schmerzhaften Stellen auch nicht die geringsten krankhaften Veränderungen vor, wohl aber an einer ganz entfernten Stelle, an welcher der Empfindungsnerv des schmerzenden Theiles vorbeigeht.

Eine andere Einrichtung im Nervensysteme, welche die Beurtheilung der Schmerzen bedeutend erschwert, ist die, daß im Gehirne (vielleicht auch im Rückenmarke oder in den Nervenknoten) ein Empfindungsnerv einem oder vielen andern, gewöhnlich den benachbarten Empfindungsnerven, seine Reizung mittheilen kann und daß dann alle diese in Mitempfindung versetzten Nerven an ihren Endpunkten gereizt worden zu sein scheinen, dadurch aber Schmerz in den ganz gesunden Theilen des Körpers, zu welchen sich jene mitempfindenden Nerven begeben, gefühlt wird. Am deutlichsten zeigt sich eine solche Mitempfindung in den Zähnen. Trägt nämlich der gereizte Nerv eines einzigen hohlen Zahnes seine Reizung auf die übrigen Nerven der gesunden Zähne über, dann wird in allen, auch den gesündesten Zähnen Schmerz empfunden. Würde dieser eine hohle Zahn, die Quelle des ganzen Schmerzes, ausgezogen, sofort würde auch aller Schmerz (oder das sogen. Zahnreißen) verschwinden. Bei ganz beschränkten aber schmerzhaften Krankheiten breiten sich solche Mitempfindungen bisweilen über große Strecken des Körpers aus und lassen das Uebel weit schrecklicher erscheinen als es wirklich ist. Uebrigens können stark gereizte Empfindungsnerven ihre Reizung auch benachbarten Bewegungsnerven mittheilen und daher kommt es, daß bei heftigen Schmerzen eine Menge unwillkürlicher Bewegungen gemacht werden, ja sogar Krämpfe eintreten können.

Die Ursachen schmerzenerregender Reizungen der Empfindungsnerven sind sehr mannigfaltige und theils äußere (Verwundungen), theils innere. Die letzteren rufen gewöhnlich durch Druck oder Spannung von Empfindungsnerven Schmerz hervor und bestehen meistens entweder in Blutüberfüllung der Haargefäße oder in Ausschwitzung von Blutbestandtheilen aus dem Haargefäßblutstrome. Die einfachsten und besten äußern Hülfsmittel bei Schmerzen sind kalte oder warme Umschläge; erstere sind immer gleich nach der Verwundung und dann anzuwenden, wenn der schmerzende Theil geröthet ist, sonst stets die letzteren. Das hülfreichste, aber nur vom Arzte zu verordnende innere Mittel gegen Schmerzen bleibt stets Opium (Morphium).

(B.) 




Die schwimmende Meeres-Festung von Eisen.

Wenn man ungefähr eine deutsche Meile weit von der London-Brücke östlich die Themse heruntergefahren zwischen Wäldern von Masten hindurch, vor den Docks vorbei, krümmt sich der breite Rücken des Flusses plötzlich zu drei Vierteln eines Cirkels um eine öde, niedrige, morastige Halbinsel, genannt die Insel der Hunde.

Sie ist über eine englische Meile lang und eine halbe breit. Seit Jahrhunderten war sie verrufen als ein Giftpilz des Sumpfes, als unbewohnbar auch schon deshalb, weil die Fluth der Themse, sobald sie ihre gewöhnliche Anschwellung etwas übersteigt, den ganzen Morast mit schmutzigem Wasser bedeckt und mit eintretender

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 47. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_047.jpg&oldid=- (Version vom 23.1.2023)