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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

hat. Der auf diese Weise um zwei Drittel seiner Macht gekommene birmanische Kaiser[1], zugleich einziger Kaufmann seines Landes, ließ sich durch seinen Gesandten wenigstens einen Hafen zurück erbitten, da er ohne Hafen nicht handeln könne. Die Engländer nahmen den Gesandten mit ungemeinem Pomp und ausgesuchter Höflichkeit auf, aber den Hafen, meinten sie, möchten sie lieber selber behalten, da nach der Theorie und Praxis der ostindischen Compagnie (an welche sich in dieser Beziehung alle guten Christen auf der Höhe der Bildung anschließen) Nehmen und Behalten seliger ist, als Geben. Kaiser und Volk von Birmanien, in ihren Existenz-Quellen, in ihrem Stolze auf’s Thödlichste verletzt, werden also wahrscheinlich wieder einen Krieg auf Tod und Leben anfangen müssen. Birmanien ist die andere Seite des englischen Ostindiens, während Rußland vom Westen über die kirgisischen Steppen, und die freie Tartarei und die große Bucharei herüber droht und mit einer ganzen Armee schon im Staate Kokan thut, als wenn es zu Hause wäre. Kokan ist einer der kleinen, schwachen Despotenstaaten, welche die großen Räume zwischen den englisch-ostindischen Nord- und russischen Südgrenzen spärlich ausfüllen und durch ihre unaufhörlichen Kriege und Revolutionen im Innern und nach Außen Handel und Gewerbe stören, so daß Rußland die Absicht haben soll, einen einzigen „ordentlichen," soliden, starken Staat daraus zu machen, der durch Anlehnung an oder Einverleibung in Rußland am Stärksten sein würde. Und dann wäre Rußland auf einmal getreuer Nachbar der ostindischen Compagnie. Scheint es doch nicht einmal den gefürchteten Staat Dost Mohamed’s, des Beherrschers der tapfern Afghanen, respectiren zu wollen. Wenigstens hat Letzterer gleich zwei Gesandte hinter einander zu dem englisch-ostindischen Landes-Director geschickt, ob er ihm nicht mit etwas Pulver und Blei und Soldaten unter die Arme greifen wolle.

Alles dies liegt noch weit im Felde, sogar sehr weit, denn zwischen England und Rußland in Asien dehnen sich noch beinahe europagroße Steppen und Gebirge, aber der Russe weiß mit Steppen umzugehen, und wer über den Balkan kam, fürchtet am Ende auch weder die Hinduku-, noch selbst die Himalaya-Gebirge. Und so viel ist gewiß, den Engländern geht die Sache jetzt schon nahe, und die in Ostindien ausgebrochene Russophobie (Russenfurcht) wirkt schon bis mitten hinein in die City von London, wo sich die Bureaux und Lagerhäuser der ostindischen Compagnie wie Königsschlösser und Festungen erheben, unter diesen Umständen denkt man billiger Weise an Ostindien, und sei es nur, um Sebastopol und deren leichengefüllte Sümpfe und Thäler sich einmal aus dem Sinne zu schlagen.

Ostindien! Wer macht sich in unserm kalten, magern, einförmigen Norden eine Vorstellung von Ostindien? Verwitterte Städte, in denen die erste Menschheit gewiegt ward, von denen noch Hunderte, noch Tausende der alten Tempel stehen, in denen einst die Muttersprache aller europäischen Nationen zu Ehren Brahma’s, Vischnu’s, Schiva’s, Mohadöh’s und unzähliger späterer und untergeordneter Götter erklang, Hunderte, Tausende von Tempeln, jetzt keine Götterhäuser mehr mit weißen und weisen Priestern, sondern Schlafstellen für Löwen, Tiger, Schakale und Werkstätten sonderbarer Insekten. Aber noch immer, wie vor Jahrtausenden, wiegt sich in unzähligen Teichen mit schwarzglänzendem Gewässer die Lotosblume zwischen riesigen Blättern, in denen einst die Götter saßen und träumten. Und zwischen den schönen, kupferfarbigen, langschwarzhaarigen, nur sehr spärlich und weiß verhüllten milden, geistig versunkenen Gestalten der Urbewohner tritt straff und stolz der rothröckige Engländer auf, gefürchtet, verehrt und angestarrt von den eingebornen Millionen als Werkzeug der Götter, welche die Erde und die Menschheit darauf für das Zeitalter des Verfalls und der Sünde vorbereiten wollen, Tief hinter Vorbauten zwischen seltsamen, glühenden, duftenden Blumen, und um sich her und in den Himmel hinein wuchernden Bäumen versteckte Strohhütten, am Tage von sengender, tödlicher Hitze und meilenweiter Todtenstille umlagert, des Nachts von Löwen, Tigern, Eulen und riesigen Nachtfaltern umbrüllt und umflattert, von Legionen Ahsen umkreischt, von heiligen, unverletzbaren Ochsen besucht, von Mördern aus Religion umlauert, den ganzen Salven der schwersten Gewittergeschütze umkracht und jede Minute zehn bis zwanzig Mal zwischen pechschwarzer Nacht bis über Mittagshelle erleuchtet, dann vom Sturme gepackt, der Häuser und Menschen und Vieh und tausendjährige Bäume wie lose Blätter mit sich durch die Lüfte reißt und Straßen der entsetzlichsten Verwüstung hundert Meilen weit in wenigen Minuten bahnt, auf der weiten Straße nach heiligen Orten vor Hunger niederstürzende Wallfahrer, weil sie aus Religion verweigern, das von Christen gebackene Brot, das man ihnen mitleidig reicht, zu essen, in ewigen Tod versunkene Andächtige, bewegungslos, wie das verwitterte Götzenbild, dann wieder Religion im unaufhörlichen, elastischen Tanze der schlanken, braunen, perlen- und shawlumflatterten Bajadere – das ist Ostindien. Hunderte vonn Meilen lang und breit in zauberischer, üppiger Naturfülle abgemagerte, zerlumpte Gestalten, matt und scheu mit dem Leibe und den Augen auf dem Boden hinkriechend, dann wieder prächtige, stolze, mit Gewerbe und Welthandel gefüllte, von allen europäischen und asiatischen Nationen wimmelnde Städte, deren Lagerhäuser, Läden und Schiffe sich im Weltmeere spiegeln, eine in London residirende Kaufmannsgesellschaft, die von da aus 120 Millionen Menschen auf dem gesegnetsten Stück Erde beherrscht und neuerdings dem stolzesten Kaiserthum Asiens noch ein paar Hundert der besten Quadratmeilen wegnahm, das ist Ostindien.

Zwanzig große Hauptflüsse mit mehr als 500 Armen von den innern Höhen ewigen Frühlings und von den höchsten Bergen der Erde[2] durch die üppigsten Zauber der nie ermüdenden Natur in unendlichen Windungen und Verbindungen herabströmend an Bäumen, Wäldern, Blumen, Thieren vorbei, die durch Schönheit, Wildheit, Duft, Größe, Farbengluth, Zahl, Gattung und Art die gelehrtesten Naturforscher in Verlegenheit setzen und alle Poesie und Romantik nordischer Völker zu farblosen Schatten abbleichen, das ist Ostindien. Das ist Ostindien in einem allgemeinen Bilder-Complex, als Ouverture, wenn man Alles anklingen läßt, ohne etwas auszuführen. Für Ausführung können wir uns natürlich blos auf einzelne, für sich bestehende Skizzen und Bilder beschränken.

Zuerst ein Wort über die merkwürdigste Erscheinung in der Geschichte, die Herrschaft einiger londoner Kaufleute über das herrlichste Land der Erde und 120 Millionen Menschen. Schon Alfred der Große, der zu Karls des Großen Zeiten, im 9. Jahrhundert, über England herrschte, ließ Schiffe für den Handel mit Ostindien bauen, doch brachten’s diese blos bis Syrien und Aegypten. Venedig und Florenz behielten noch den Welthandel bis nach Entdeckung des Weges um das Cap der guten Hoffnung, wodurch das damals weltseeberühmte Portugal König des Meeres und Lissabon Hauptstapelplatz der Waaren und Wunder Indiens ward. Die Engländer erwachten jetzt, und entflammt von den Schätzen des Indus und Ganges fingen sie an, nach einer Nordwestpassage zu suchen, die bekanntlich neuerdings durch das entdeckte Ende Franklin’s gefunden und zugleich tragisch wieder geschlossen ward. Franz Drake war der erste englische Weltmeerheld und zeigte, daß man den stillen Ocean ohne Gefahr in jeder Richtung durchkreuzen und mit den wilden, indolenten Bewohnern Indiens nach Willkür handeln könne. Zuerst versuchten dies englische Kaufleute über die Türkei, Syrien und Aegypten, nachdem sie 1594 die Königin Elisabeth bewogen, einen Vertrag mit dem Sultan abzuschließen. Doch ohne directen Handel mit Indien ließ sich nicht mit den Holländern und Portugiesen concurriren, so daß sich unter dem Earl George von Cumberland am 31. December 1600 eine besondere Compagnie zu diesem Zweck bildete, die von Elisabeth unter dem Namen „Ost-India-Compagnie“ Corporationsrechte bekam. Sie bestand aus 215 Personen mit einem Capitale von 72,000 Pfund Sterling in Actien zu 50 Pfund. Ihre erste Flotte segelte am 2. Mai 1602 ab. Neun Jahre später war diese Kaufmannsflotte bereits so stark, daß sie die portugiesische bei Surat schlug. Der Indien beherrschende Groß-Mogul bekam dadurch solchen Respekt vor den Engländern, daß er ihnen die bis dahin verweigerte Erlaubniß gab, in Surat, Ahmedabad, Cambaya und Yoga Handelsfaktoreien anzulegen. Jacob I. sandte 1614 einen Bevollmächtigten an den Hof des Groß-Moguls, welcher der Compagnie bestimmte Privilegien auswirkte, 1640 auch die Erlaubniß, in Madras ein Festungswerk zu erbauen. Doch

  1. Wir werden ihn und sein Land nächstens durch „birmanische Spiegel-Bilder“ weiter kennen lernen.
  2. Nach Dr. J. D. Hooker, dem neuesten Forschungsreisenden in Indien, besonders durch den Himalaya, ist nicht mehr der Dawalagiri (27,600 Fuß hoch), sondern der im wahren Centrum der Himalaya-Gebirge sich 28,178 Fuß hoch erhebende Kangschan-junga der höchste Berg der Erde.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_095.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2023)