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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

das Todesgeschrei des Kriegers zur Rechten in den Schatten des Waldes. Harrod verhielt sich lange Zeit still, ehe er beschloß, das Manöver zu wiederholen; die Mütze wurde auf’s Neue emporgestreckt, aber diesmal erfolgte nur ein Schuß, denn die Indianer hatten sich warnen lassen. Harrod hatte jedoch seinen Zweck erreicht, denn er wußte jetzt genau, wo die beiden Indianer standen. Er hatte vorher nur ungefähr die Richtung, aber nicht die eigentliche Stellung seiner Feinde gekannt, da sein Auge vorzugsweise damit beschäftigt gewesen war, den Indianer zur Rechten zu beobachten – in weniger als einer halben Minute trat der Indianer, welcher geschossen hatte, mit einem Theile seines Körpers hinter seinem Schutze hervor, und Harrod schoß ihn durch’s Herz.

Der andere Indianer zog sich eilig zurück; er entkam, aber Harrod war der Meinung, daß seine dritte Kugel auch ihn getroffen haben müßte. Die Indianer hatten sich durch das Manöver mit der Mütze vollkommen täuschen lassen, und der letzte, der die Flucht ergriffen hatte, war offenbar der Meinung, daß mehrere weiße Männer vorhanden sein müßten, da sie bereits zwei getödtet hätten. Harrod ging nun gemächlich an’s Werk, die beiden Hirsche, welche von den Indianern erlegt worden waren, auszuweiden, und erreichte am Abend, zur Freude aller, reichlich mit Fleisch beladen die Station.

Harrod’s Gutmüthigkeit scheint eben so außerordentlich gewesen zu sein wie sein Muth und seine Thatkraft. Seine Hütte, eine der ersten im Lande, wurde alsbald der Kern einer Station; es versammelten sich hier, um Schutz und Beistand zu suchen, die Vermesser des Landes, die Speculanten, die Jäger und Auswanderer, und die Namen Harrodsburg und Boonesborough waren die ersten, die sich in der Seele müder, in diesem gefährlichen Lande herumziehender Abenteurer aller Art mit der Hoffnung auf Ruhe und Sicherheit verbanden. Schnell wuchsen rings um diese Hütte andere Hütten empor, bis endlich sichere Vertheidigungsmaßregeln nöthig geworden waren und ein Fort gebaut wurde.

So wurde unter dem Schutze der beiden Namen Boone und Harrod die dauernde Besitznahme von Kentucky durch die Weißen begonnen.

Diese beiden Männer, obgleich verhältnißmäßig noch jung, schienen in sich vollständig das urthümliche Musterbild des alten patriarchalischen Charakters wieder erzeugt zu haben, der in dem Elementarzustande der Gesellschaft, in welcher sie lebten, so überaus nöthig war. Alle Neuankommenden waren ihre Kinder – sie wurden als solche mit offenen Armen empfangen, sie wurden bewacht, beschützt und geleitet, bis sie gelernt hatten, allein zu stehen und für sich selber zu sorgen, und was noch merkwürdiger war, man gestattete ihnen sogar, ohne das geringste Murren, sich der außerordentlichen Mühen und Leiden ihrer edlen und uneigennützigen Beschützer zu ihrem Vortheil zu bedienen.

Wenn ein Ansiedler anlangte, erkundigte er sich nach einem Platz zur Niederlassung; Harrod’s Kenntniß von der Umgegend stand ihm zu Diensten; er nahm seine Axt, half dem Neuling eine Hütte bauen, und war der Familie das Fleisch ausgegangen, so wußte Harrod durch eine ihm eigene Zauberei es auszukundschaften. Er ging in den Wald, und bald wurden den Darbenden ein schöner Hirsch, ein fetter Bär oder einige Büffelviertel zur Verfügung gestellt. Die Pferde hatten sich in der Umgegend verlaufen, mit welcher der Ansiedler noch nicht bekannt war, und man konnte keine Feldarbeit vornehmen. Harrod’s unermüdliche Thätigkeit hat im Vorbeigehen die Entdeckung gemacht, daß auf der neuen Besitzung etwas nicht in gehöriger Ordnung ist, und man hört seine offene männliche Stimme über den Zaun rufen: „Heda, Jones – woran liegt es? Noch nicht gepflügt, wie ich sehe! Doch nichts passirt?“

„O doch, das alte Pferd ist seit fünf Tagen verschwunden – kann es in jenem Rohrdickiggebirge nicht wieder finden – habe mich selbst zwei Tage lang dort verirrt, um nach ihm zu suchen, und habe es nun aufgegeben.“

„Seid unbesorgt, Jones, Ihr werdet Euch in Kurzem an dieses Gebirge gewöhnen. Euer Pferd ist ein Rothbrauner, nicht wahr?“

„Ja, eine Schneppe auf der Nase und weiß am linken Hinterfuße.“

„Guten Morgen, Jones.“

Einige Stunden später wird das rothbraune Pferd mit der Schneppe auf der Nase gemächlich nach der Einfriedigung des Ansiedlers Jones getrieben, und Harrod geht weiter.

Die Bewohner der Station erhalten Nachricht, daß die Indianer das fünf Meilen entfernte Haus eines Ansiedlers angegriffen, die ganze Familie bis auf zwei Töchter gemordet und diese in eine unglückliche und gefährliche Gefangenschaft geführt haben – augenblicklich hört man Harrod’s Kriegsgeschrei.

„Auf, Jungen – auf, wir müssen diese Schufte fangen – wir können unsere Mädchen nicht entbehren!“

Sein gebräuntes Gesicht röthet sich vor Begeisterung und Eifer und sein dunkles Auge leuchtet; die Leute kennen ihren Anführer, sie wissen, daß er augenblicklich auch ohne sie hinweggeeilt, und sind schnell bereit.

Die schnelle, unermüdliche Verfolgung, die vorsichtige Beschleichung des Lagers, der nächtliche Ueberfall mit seinem kurzen wüthenden Kampfe, die Befreiung und die Rückkehr, dies waren alles nicht ungewöhnliche Ereignisse des wilden Lebens dieser Ansiedler.

In der Eigenschaft als Spion, Führer oder Streifschaaren-Häuptling unternahm Harrod häufige und verwegene Züge in das Land der Indianer. Kein Unternehmen war für seine Begeisterung und seinen Eifer zu kühn, keines erforderte zu viel Geduld, zu viel Gewandtheit und zu viel Ausdauer in Hunger, in Durst und Beschwerden, daß er in seinem kaltblütigen Selbstvertrauen sich gescheut hätte, es zu wagen, was er am Häufigsten allein that. Er vermied so viel als möglich die Gesellschaft anderer Leute, denn er sagte, sie pflegten gewöhnlich schon über Beschwerden und Gefahren zu klagen, ehe bei ihm der eigentliche Spaß noch begonnen habe, und daß es ihm daher mehr Mühe koste, sich ihrer anzunehmen, als alles, was zu thun sei, zweimal zu vollbringen. Diese außerordentliche Liebe zu einsamen Unternehmungen und Abenteuern war eine der am Meisten hervortretenden Charaktereigenthümlichkeiten dieses James Harrod. Die Indianer nannten ihn deshalb auch „das einsame Langmesser,“ und fürchteten nicht wenig seine geheimnißvolle Tapferkeit.

Er wagte sich bei verschiedenen Gelegenheiten Nachts in die Dörfer der Indianer, um ihre Plane zu erforschen, und als er einst hierbei von einem jungen Krieger ertappt wurde, schlug er diesen mit seiner mächtigen Faust zu Boden und flüchtete sich in den benachbarten Wald, aber nicht ohne gesehen und verfolgt zu werden. Zwanzig bis dreißig Krieger setzten ihm nach und waren ihm im ersten Anlauf so dicht auf den Fersen, daß ihre Flintenkugeln ihn wie Hagel umschwirrten.

Die Schnelligkeit indianischer Läufer ist fast sprüchwörtlich geworden, aber sie hatten hier einen Mann vor sich, der noch schnellfüßiger und unermüdlicher war, als sie. Er übertraf sie so weit, daß in dem Augenblicke, wo sie den ungefähr zehn Meilen entfernten Miami erreichten, nur noch drei Krieger übrig waren, welche die Verfolgung fortsetzen zu wollen schienen.

Harrod sprang ohne Bedenken in den Fluß, und als er das jenseitige Ufer erreichte, kamen auch seine Verfolger an den Fluß und feuerten nach ihm, indem er an dem Ufer hinankletterte; der Fluß war hier ziemlich breit und die Kugeln verfehlten ihr Ziel. – Der Verfolgte suchte jetzt einen Baum am Saume des Waldes zu gewinnen, nahm die wasserdichte Hülle von Hirschblase von dem Schlosse seiner Büchse und bereitete sich vor, seine Feinde zu empfangen, wenn sie es versuchen sollten, über den Fluß zu setzen. Die Indianer zögerten einen Augenblick, denn es war jetzt seit einiger Zeit Tageslicht eingetreten, und schienen fast zu befürchten, daß ihr Feind einen festen Stand genommen haben möchte, als sie aber in diesem Augenblicke den nahenden Ruf derjenigen hörten, die zurückgeblieben waren, antworteten sie und stürzten sich in das Wasser.

Harrod wartete, bis sie ungefähr die Mitte des Flusses erreicht hatten, worauf seine Büchse knallte und der vorderste der Schwimmenden untersank; die zwei anderen hielten inne und kehrten dann um, aber ehe sie aus dem Bereich der Büchse kommen konnten, verwundete Harrod einen Zweiten, der sich dem Strome überließ und hinabgetrieben wurde. Der Dritte entkam mit geschicktem Untertauchen, die Manöver einer verwundeten Ente nachahmend, glücklich selbst Harrod’s sicherem Ziele.

Harrod hörte das wüthende Geschrei der Hauptschaar seiner überlisteten Verfolger, die das Ufer des Flusses erreicht hatten, als er bereits durch den Wald floh; die Verfolgung wurde nicht weiter fortgesetzt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 475. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_475.jpg&oldid=- (Version vom 6.7.2023)