Seite:Die Gartenlaube (1855) 497.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

Tasche, zog etwas mit den Fingern daraus hervor und wollte es schon dem hinter ihm stehenden Wirthe zureichen. Noch schneller hatte aber die kräftige Faust des Gensd’armen zugegriffen. Sie erfaßte einen zusammengewickelten Fünfthalerschein.

Der Dieb erschrak, aber nur leicht. Der Gensd’arm blieb ruhig, als wenn nichts vorgefallen wäre. Nur mit sehr leisem Spott sagte er:

„Du hast im Zuchthause also doch mehr verdient?“

„Das nicht, Herr Schmidt.“

„Dann hast Du den Schein wohl gefunden?“

Der Dieb hatte unzweifelhaft von dieser allerdings sehr gewöhnlichen Ausrede Gebrauch machen wollen. Er wurde, da er nicht sogleich eine andere finden konnte, zuerst verlegen und dann trotzig.

„Sie haben es genau gerathen, Herr Gensd’arm.

„Ich hätte es mir denken können. Und wo?

„Auf dem Molkenmarkte vor Nummer drei nicht. Da findet die Polizei schon Alles.“

„Wenigstens Spitzbuben genug.“

Der Trotz des Diebes sollte einer größeren Verlegenheit Platz machen. Der Gensd’arm hatte seine Beobachtungen auf der Straße fortgesetzt. Auf einmal öffnete er das Fenster und gab mit der Hand einen bezeichnenden Wink hinaus. Gleich darauf trat der Gensd’arm Schmidt Zwei mit einem Menschen in den Keller.

Dieser Begleiter des Gensd’armen war ein sehr alter, sehr kleiner und sehr magerer Mann, mit einem spitzen, vertrockneten Gesichte, langer Nase, triefenden Augen und großer Brille. Er trug einen großen verdeckten Korb unter dem Arme. Er schien schwer an dem Korbe zu tragen.

Schmidt Vier kannte den Alten, und der Alte kannte den Gensd’armen Schmidt Vier.

Das Strafrecht, das bis zu dem neuen Strafgesetzbuche vom Jahre 1851 in Preußen galt, hatte sehr strenge Vorschriften gegen Diebe, sehr laxe gegen Diebeshehler. Besonders schwere Strafen waren gegen den rückfälligen Dieb angedrohet. Wer zwei Mal wegen Diebstahls bestraft, zum dritten Male einen sogenannten „großen Diebstahl,“ zum Betrage von mehr als fünf Thalern beging, der konnte, wie der Kunstausdruck war, mit einer „approximativ lebenswierigen“ Zuchthausstrafe belegt werden. Den bloßen Diebeshehler dagegen konnte immer, wenn er auch noch so oft, sei es wegen Diebeshehlerei oder wegen Diebstahl selbst, bestraft war, nur höchstens eine Zuchthausstrafe von zwei bis drei Jahren treffen. Dieses System der Bestrafung brachte eine sehr praktische Praxis, namentlich der berliner Diebe hervor, welche die Diebstahlsgesetze nicht minder genau kannten als die Richter. Die berliner Diebe pflegen meist Diebe aus Neigung zu sein. Sie stehlen aus Diebeslust, wie der Jäger aus Jagdlust jagt. Bei manchen war nun allerdings die Diebeslust eben so groß, wie bei vielen großen Herren die noble Jagdlust, auch die Aussicht auf das „approximativ-lebenswierige Zuchthaus“ konnte sie vom Stehlen nicht zurückhalten. Andere dagegen waren desto verständigere Leute. Waren sie wegen Diebstahl schon mehrmals bestraft, so gingen sie in sich, begannen einen andern Lebenswandel und wurden – Diebeshehler. Freilich wurden sie nicht allein dies, sondern nebenbei auch noch etwas Anderes. In früherer Zeit ehrliche Leute, zuweilen gar berliner Bürger, wenn es ihnen gelungen war, die „preußische Nationalkokarte“ wieder zu erhalten. Später machten sie das Geschäft der christlichen Frömmigkeit. Gewöhnlich, was allerdings bemerkt werden muß, trat die Nothwendigkeit der Ergreifung eines solchen veränderten Lebenswandels erst im späteren Alter ein, besonders aus dem Grunde, weil zugleich die damalige Beweistheorie des preußischen Strafprozesses dafür Sorge trug, jener Strenge des Gesetzes gegen die Diebe, namentlich den schlauen und frechen Dieben gegenüber, vielfach die Spitze abzubrechen.

Der alte Mann, den der Gensd’arm Schmidt Zwei in den Keller führte, gehörte zu der Sorte der mehrfach bestraften Diebe, welche die noble Passion seines Standes zu überwinden gewußt hatten. Er war ein sehr christlich frommer Diebeshehler geworden, der an Betstunden Theil nahm und sogar einem Missionsvereine zur Bekehrung der Heiden angehörte.

„Du, Graumann?“ begrüßte ihn der Gensd’arm Schmidt Vier, in seiner kurzen Weise, theils verwundert, theils erfreut.

Der Alte seufzte tief auf, während er den Versuch machte, die triefenden Augen gen Himmel zu schlagen.

„Ja, guter Herr Schmidt,“ sagte er, langsam, bedächtig, salbungsvoll. „Man ist in dieser bösen Zeit nicht einmal mehr sicher, wenn man auch auf den Wegen der Gerechten wandelt. Ja, gerade wer auf ihnen wandelt, muß am Meisten dulden.“

„Darauf warst Du?“

„Wie immer, wenn auch oft von den Menschen verkannt und verfolgt.“

„Mit dem Korbe da?“

„Lassen Sie sich erzählen, Herr Schmidt – “

„Zeig her.“

Der Gensd’arm nahm den Korb, den der Alte trug, öffnete den Deckel und sah den Korb angefüllt mit Uniformstücken eines preußischen Lieutenants von der Linie.

„Aha!“

„Lassen Sie sich erzählen, Herr Schmidt – “

„Schweig!"

Der Gensd’arm Schmidt Vier ergriff den Alten und stellte ihn in eine Ecke des Kellers; dann stellte er den Dieb Ludwig Liedke in eine andere, und den Kellerwirth in eine dritte; alle Drei so, daß keiner den anderen sehen, also irgend ein Zeichen mit ihm wechseln konnte. Er beschloß diese Anordnung zur Vermeidung von „Collusionen“ mit der Drohung:

„Wer spricht, bekommt die flache Klinge.“

Dann sagte er zu dem Gensd’armen Schmidt Zwei. „Holen Sie rasch den Polizeirath herüber. Sie wissen, wo er ist. Nachher kommen Sie mit Schmidt Drei hierher.“

Schmidt Zwei ging.

Schmidt Vier spazierte schweigend in dem Keller umher, abwechselnd bald vor dem Einen, bald vor dem Anderen seiner drei Gefangenen stehen bleibend, die ihrerseits unbeweglich wie Bildsäulen standen. Er sah ihnen dabei in das Gesicht, als wenn er sagen wolle. „Aber was hast Du denn eigentlich gethan, daß man Dich hier so behandelt? Nicht wahr, Du bist unschuldig. Aber jene beiden Anderen da sind die Verbrecher?“ – Jeder wollte ihm in der That antworten, und unzweifelhaft im Sinne seines Fragens. Aber so wie Einer begann, die Lippen zu bewegen, hob der schweigende Gensd’arm drohend den Zeigefinger der linken Hand in die Höhe, während seine Rechte nach dem Säbel an seiner Seite faßte.

Der Gensd’arm schien durch seinen Vorgesetzten auch etwas von der Kunst des Inquirirens gelernt zu haben, obgleich der Polizeirath Duncker als Inquirent nicht so sehr durch seinen Ernst als durch seine Freundlichkeit den Verbrechern gefährlich wurde. Das schweigende Fragen des Gensd’armen und sein Verbot zu antworten, hatte zur Folge, daß in jedem der Gefangenen von Minute zu Minute mehr das natürliche Verlangen wuchs, von dem gegen ihn entstandenen Verdachte sich zu reinigen, was, wie die Sache einmal lag, nur durch Hinüberwälzung von Schuld und Verdacht auf die Anderen oder auf Dritte geschehen konnte.

Als nach kurzer Zeit der Polizeirath eintrat, hatte das Verlangen sich fast bis zur Wuth gesteigert , selbst bei dem christlich frommen Dulder auf dem Pfade der Gerechten, am Meisten bei dem alten Diebe mit dem weichen Herzen. Allen Dreien, wie sehr sie den Eintretenden fürchteten, schien eine schwere Last vom Herzen gefallen zu sein.

Das Gesicht des Polizeiraths war noch freundlicher als am Morgen um sieben Uhr.

„Muß ich rapportiren?“ fragte der Gensd’arm Schmidt Vier, besorgt, daß er viel werde sprechen müssen.

„Ich weiß schon Alles.“

Der Gensd’arm wurde doppelt zufriedener. Der Polizeirath wandte sich an Liedke.

„Liedke, Liedke, wie konntest Du so unvorsichtig sein?“ sagte er.

Der Dieb wollte losplatzen.

„Ja, ja, Herr Polizeirath, da haben Sie es getroffen. Nur Unvorsichtigkeit – “

„Laß erst mich sprechen, Liedke. Du hast mich wohl nicht verstanden. Ich meinte, wie Du, ein so alter Dieb, heute Morgen so unvorsichtig sein konntest, Dich zu erschrecken, als Du mich sahest. Das bringt Dich in’s Unglück, und diesmal vielleicht auf zeitlebens in’s Zuchthaus. Es thut mir leid, denn Du bist nie ein gefährlicher Mensch gewesen. Nun, nicht wahr, armer Kerl, Du hattest mich eben nicht verstanden?“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 497. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_497.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)