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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

den ermüdeten Pferden halten wollte; allein der feine Franzose war einmal aufmerksam geworden, und es war ein Mißtrauen in ihm aufgestiegen, das ihn nicht wieder verlassen zu wollen schien.

„Ach, sehen Sie, Herr Sergeant,“ sagte der deutsche Gensd’arm. „Sie bleiben ja doch; die Sache wird Ihnen auch verdächtig.“

„Schweigen Sie, Gensd’arm Sebald, und thun Sie nichts ohne meinen bestimmten Befehl. Verstehen Sie?“

Der Wagen fuhr vor dem Wirthshause vor und hielt an. Ein Herr und eine Dame stiegen in gewöhnlicher Reisekleidung aus. Bedienung hatten sie nicht bei sich. Die Dame, als sie ausgestiegen war, wandte sich nach dem Innern des Wagens zurück, und nahm sanft ein schlafendes Kind heraus, ein bildhübsches Mädchen von drei bis vier Jahren, das sie auf ihren Armen in das Haus trug. Der Herr folgte ihr in dieses.

Weder der Herr noch die Dame hatten um die beiden Gensd’armen sich bekümmert, nicht einmal nur mit einem einzigen Blicke sich nach ihnen umgesehen. Desto aufmerksamer hatten die Gensd’armen namentlich den Herrn beobachtet, und wie der Gensd’arm Sebald seiner Sache schon längst, wenigstens bis zu einer Wette, gewiß sein wollte, so schien auch in dem Sergeanten eine Ahnung, eine Erinnerung, ein Verdacht auf einmal wach geworden zu sein und nach und nach immer klarer und lebendiger zu werden.

„Gensd’arm Sebald,“ sagte er zu seinem Begleiter, „eilen Sie zu meinem Bureau, und holen Sie die Steckbriefe aus dem Sommer des Jahres 1809.“

„Aber die Geschichte mit den beiden Advokaten passirte ja erst im verflossenen Winter.“

„Thun Sie, was ich Ihnen befehle. Sie bringen die Papiere in die Schenkstube da drüben. Ich werde mich dahin begeben, um die Fremden unter Aufsicht zu behalten. Sie kommen von hinten in das Haus, um kein Aufsehen zu erregen.“

Der Gensd’arm Sebald ging die Strasse hinunter. Der Sergeant verlor sich in einem gegenüberliegenden Hause.

Die beiden Reisenden, die in das Wirthshaus eingetreten waren, schienen sowohl nach ihrer Kleidung, als auch im Uebrigen, nach ihrem Aeußeren, den höhern Ständen anzugehören. Der Herr war eine große, schöne Figur, etwas geschmeidig und doch von einem gewissen strengen, militairischen Anstand. Er war brünett, das fein geschnittene, längliche Gesicht etwas blaß, die Augen schwarz, lebhaft, durchdringend. Er schien in der Mitte der dreißiger Jahre zu stehen. Die Dame mochte fünf bis sechs Jahre jünger sein, also am Ende der zwanziger oder im Anfange der dreißiger Jahre. Sie war nicht minder schön, wie der Mann, hoch gewachsen, etwas mager; glänzend schwarzes Haar, glänzend schwarze Augen, der Teint außerordentlich zart, die Züge des Gesichts außerordentlich fein geformt. Herr und Dame sahen angegriffen aus; war es von der Reise? War es von ihrem Leben überhaupt? Ein stets umherschweifender, unruhiger Blick des Mannes, ein manchmal trauriger, dann wieder grollender, aber gleichfalls stets unruhiger Blick der Frau ließen beinahe das Letztere vermuthen.

Sie ließen sich ein Zimmer anweisen, nur zum Ausruhen für eine oder anderthalb Stunden, während der Kutscher die Pferde fütterte.

Eine Aufwärterin, vielleicht eine Tochter oder andere Anverwandte des Hauses – sie waren in dem Wirthshause eines sehr kleinen Landstädtchens – führte sie eine Treppe hinauf. Sie wollte der Dame das schlafende Kind abnehmen; die Dame gab es nicht ab, um es nicht zu wecken. Das Kind schlief so süß in ihren Armen, und sie sah mit so unendlicher Liebe und Sorge auf das schlafende Kind.

Oben auf dem Gange führte die Aufwärterin die Reisenden zu einer Thür. In dem Augenblicke, als sie diese aufschließen wollte, sah sie aus dem Hintergrunde des Ganges einen Herrn in mittleren Jahren hervorkommen. Sie hielt im Aufschließen der Thür ein, mit großer Neugierde den Herrn erwartend. Schon von weitem rief sie ihm, freilich mit sorgfältig gedämpfter Stimme, entgegen:

„Wie geht es drinnen, Herr Doktor?“

Der Gefragte zuckte die Achseln.

„Schlecht, sehr schlecht.“

„Haben Sie gar keine Hoffnung?“

„Gar keine! Rettung ist völlig unmöglich.“

„Das ist sehr traurig!“

„Gewiß.“

Der Herr ging die Treppe hinunter. Er hatte mit vieler Theilnahme, mit einer gewissen Bewegung gesprochen.

Die Aufwärterin war sichtlich traurig, bekümmert geworden; sie schloß still die Thür auf, und ließ die Reisenden eintreten.

Der fremde Herr hatte die kurze Unterredung mit einiger Ungeduld angehört. Die Dame hatte ihr Aufmerksamkeit geschenkt, ob aber auch Theilnahme, zeigten wenigstens ihre Gesichtszüge nicht.

„Besorgen Sie uns ein Frühstück,“ sagte der Herr zur Aufwärterin.

Die Aufwärterin ging. Die Dame legte das schlafende Kind auf ein Bett, das in dem Zimmer stand, und blieb schweigend vor demselben stehen. Sie schien nur das Kind zu betrachten; wer sie genau beobachtete, mußte aber bemerken, daß ihre Blicke eigentlich nicht ohne einige Unruhe ihrem Begleiter galten.

Der Herr ging sehr unruhig im Zimmer umher. Es war, als wenn bisher der Druck eines unerträglichen Zwanges auf ihm gelastet habe, den er auf einmal nach der Entfernung der Aufwärterin von sich warf. Er gesticulirte mit den Armen und mit den Händen, warf den Kopf vor und zurück, und murmelte dabei heftige, aber unverständliche Worte.

Die Dame hatte sich zuletzt nur zu ihm gewandt und seine heftigen, hastigen Bewegungen verfolgt. Sie unterbrach diese.

„Gregoire, bist Du in Gefahr?“

„Ich?“ wiederholte etwas höhnisch der Mann.

„Du bist es also nicht?“

„Warum sprichst Du blos von mir, nicht auch von Dir?“

„Wenn ich zugleich von mir sprechen müßte, so müßte ich auch dieses Kind einschließen, und für so schlecht kann ich Dich nicht halten, daß Du das arme Kind in solcher Weise elend machen könntest.“

„Welches Geschwätz wieder! Bist Du in Gefahr, so hast Du selbst Dich hineingebracht, nicht ich!“

„Antworte mir, ob wir verfolgt werden?“

„Weiß ich es?“

„Warum erblaßtest Du bei dem Anblicke der Gensd’armen? Warum bist Du jetzt in dieser großen Aufregung?“

Der Mann antwortete nicht, wenigstens nicht direkt.

„Es ist ein Hundeleben, das man führt!“ rief er.

„Das weiß Gott!“ bestätigte mit einem schweren Seufzer die Frau. „Und dieses arme Kind muß schon so früh in das elende Leben hineingeworfen werden!“

Der Mann fuhr zornig auf: „Warum hast Du immer nur Sorgen für das Kind?“

Diesmal antwortete die Frau nicht.

„Und von seinen eigenen Eltern!“ fuhr sie in ihrer Klage um das Kind fort.

„Auch von Dir!“ rief höhnisch lachend der Mann. „Endlich warst Du einmal aufrichtig.“

Die Frau wandte sich plötzlich mit einem zornfunkelnden Blicke zu dem Manne. Sie hatte eine bittere Bemerkung, wahrscheinlich einen schweren Vorwurf auf den Lippen. Sie brachte sie nicht vor. Das Gesicht des Mannes war blässer, seine Unruhe war zu einer unverhohlenen Angst geworden; das sah sie. Auf einmal verließ sie das Bett, an dem sie vor dem Kinde stand, sie sprang auf den Mann zu und schloß ihn leidenschaftlich in ihre Arme.

„Gregoire, Du weißt, wie ich Dich liebe. Wir sind in Gefahr; entdecke Dich mir. Nimm mir die Angst, die mir das Herz zerdrückt, für Dich und für unser Kind.“

Der Mann blieb kalt, zurückstoßend.

„Wirklich auch für mich?“

„Auch für Dich, auch für Dich! Du weißt, wie ich das Kind liebe, wie mein Herz an dem theuren Wesen hängt. Aber nicht minder hängt es an Dir. Glaube mir, ich schwöre es Dir!“

„Du fühlst selbst, daß Deine Liebe der Schwüre bedarf, damit sie Glauben finde.“

„Hast Du denn immer nur diesen Spott, diese Qual für alle meine Liebe?“

„Immer! Ich erinnere mich noch sehr wohl der Zeit, da ich so Dich fragen mußte; ich war der Narr dazu.“

Die Frau wollte ihm etwas erinnern. Schnell rief er ihr zu: „Schweig; es kommt Jemand. Zeige keine Aufregung, wenn wir nicht verloren sein sollen.“

„Also wir sind wirklich in Gefahr?“ fragte noch einmal die Frau.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_002.jpg&oldid=- (Version vom 26.8.2018)