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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

No. 6. 1857.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0 Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Spekulation und Freundschaft.
Novelle von August Schrader.


Ⅰ.

Im Jahre 18.. feierte die Residenz den Geburtstag des regierenden Fürsten durch besondere Festlichkeiten. Der geliebte Landesherr war fünfzig Jahre alt und hatte an diesem Tage die Zügel der Regierung fünfundzwanzig Jahre lang kräftig und weise geleitet. In allen Schichten der Bevölkerung gab sich heute das Bestreben kund, Dank, Verehrung und Freude auszudrücken.

Die Ressource der Residenz, eine Gesellschaft, die fast alle höheren Beamten und angesehenen Bürger sowie die Offiziere der kleinen Garnison zu ihren Mitgliedern zählte, gab in dem großen Rathhaussaale einen glänzenden Ball. Der Fürst selbst hatte versprochen, einige Stunden der Gast seiner Unterthanen zu sein.

Wir betreten um elf Uhr den großen, glänzend erleuchteten Saal. Die Tafel ist vorüber, und man tanzt die Polonaise. Die fürstliche Kapelle exekutirt meisterhaft Spohr’s herrliche Polonaise aus Faust.

Unter den Säulen des Orchesters erblicken wir zwei Männer, die mit großem Interesse dem Tanze zusehen. Der eine von ihnen, eine stattliche Gestalt, ist der neue Kammerpräsident Seldorf, der vor sechs Wochen aus K. angekommen und seit dieser Zeit sein Amt verwaltet. Seldorf mochte fünf- bis sechsundvierzig Jahre zählen; er war, trotzdem sein Haar schon zu bleichen begann, ein schöner Mann zu nennen. Sein großes dunkeles Auge verrieth einen hohen Grad von Geist und Energie des Charakters. Die geschäftige Fama erzählte, daß er sich von seiner Frau, mit der er unglücklich gelebt, habe scheiden lassen, und daß er seit zwölf Jahren vergebens nach einer Gattin suche, die allen seinen Anforderungen entspreche. Die Frauen belächelten den wählerischen Kammerpräsidenten, und die Männer suchten einen andern Grund seines Junggesellenstandes.

Der zweite Mann, der ihm zur Seite stand, war der Kanzleirath Bronner, eine kurze dicke Gestalt. Bronner hatte ein volles, rothes Gesicht, mit kleinen, listigen, grauen Augen, einer breiten Nase, aufgeworfenen Lippen und fettem Kinn. Das starke schwarze Haupthaar und den Backenbart von derselben Farbe trug er kurz geschoren. Unter der rothen Gesichtsfarbe zeigten sich, wenn man ihn in der Nähe sah, unzählige feine Pockennarben. Der Kanzleirath gehörte zu den Beamten, die sich weder auszeichnen, noch etwas in ihrem Dienste zu Schulden kommen lassen; er war ein Rad in der großen Geschäftsmaschine, das sich ruhig dreht, um den ganzen Mechanismus im Gange zu erhalten. Er hatte keine Feinde, aber auch eben so wenig Freunde. Wer ihn jetzt neben dem Präsidenten sah, war der Meinung: er will sich insinuiren. Vielleicht war diese Meinung nicht falsch.

Dem Kammerpräsidenten schien die Begleitung des kleinen Mannes nicht unangenehm zu sein, denn er sprach viel und freundlich mit ihm.

„Herr Kanzleirath,“ sagte er, „die Gelegenheit, meine neue Umgebung näher kennen zu lernen, ist so günstig, daß ich sie nicht ungenützt vorübergehen lassen kann. Darf ich dabei um Ihre Unterstützung bitten?“

„Ich stehe zu Diensten, Herr Präsident!“ antwortete eifrig der schwarze Mann. „Wer, wie ich, zwanzig Jahre in der Residenz lebt, kennt nicht nur alle Personen, sondern auch, ohne es zu wollen, alle Verhältnisse.“

Die Reihen der Tänzer zogen im langsamen Polonaisenschrtte an den Beobachtern vorüber, die sich das Ansehen gaben, als ob sie ein gleichgültiges Gespräch unterhielten. Der Kammerpräsident ließ sich Auskunft über mehrere Personen ertheilen. Plötzlich fragte er: „Ist jener alte Herr mit der Brille und dem blauen Fracke nicht der Kassenrendant Ernesti?“

„Ganz recht, Herr Präsident.“

„Und wer ist die junge Dame, die er führt?“

Der Kanzleirath, der sonst so rasch geantwortet hatte, schien diesmal in Verlegenheit zu gerathen.

„Welche Dame meinen Sie?“ fragte er gedehnt.

„Die Tänzerin des Kassenrendanten!“ wiederholte der Präsident.

In diesem Augenblicke ging das bezeichnete Paar vorüber.

Die junge Dame, vielleicht zwanzig Jahre alt, zeichnete sich nicht nur durch ihre reiche und gewählte Toilette aus, sondern auch durch ihre frische, fast blendende Schönheit. Sie schien sich ihrer besonderen Vorzüge bewußt zu sein, denn stolz, als ob sie die Königin des Festes wäre, schritt sie an der Hand ihres greisen Tänzers durch den Saal. Das folgende Paar hielt sich augenfällig in bescheidener Entfernung.

„Diese Dame,“ flüsterte der Kanzleirath, „ist ein Problem, das man umsonst zu lösen sich bemüht; sie lebt seit einem Jahre unter dem Namen Cäcilie von Hoym in unserer Residenz. Niemand weiß mehr als ihren Namen, daß sie das schöne Haus neben dem Schloßqarten allein bewohnt, eine Equipage hält und nie weder Gesellschaften gibt, noch besucht. Ihre Anwesenheit auf unserem Balle hat alle Welt in Erstaunen gesetzt. Der Kassenrendant Ernesti führte sie mit seiner Gattin ein. Wie man sich heimlich in’s Ohr flüstert, hat sich die schöne Cäcilie der besondern Protektion unseres allergnädigsten Fürsten zu erfreuen.“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 73. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_073.jpg&oldid=- (Version vom 25.1.2021)