Seite:Die Gartenlaube (1857) 415.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

Die ganze Provinz sah mit Spannung dem Ausgange des Processes entgegen, während er selbst mit wahrhafter Seelenruhe sein Schicksal erwartete. Die liebenswürdige Gräfin, die er gegen den Willen seiner Familie geheirathet hatte, da sie als arme Bürgerliche und noch dazu als eine getaufte Jüdin mit doppelten Vorurtheilen zu kämpfen hatte, war sogleich herbeigeeilt und theilte jede ihr gestattete Stunde im Gefängnisse mit ihrem Gatten. Niemals habe ich in meinem Leben ein ähnlich schönes Verhältniß zwischen Eheleuten kennen gelernt. Zwei reizende Kinder, ein kräftiger Knabe und ein holdes Mädchen, waren mit ihr gekommen, um den gefangenen Vater zu besuchen und durch ihre Gegenwart aufzuheitern. Dies thaten sie in der artigsten Weise und ihr kindliches Geplauder, ihre zärtlichen Liebkosungen, ihr heiteres Lachen waren ganz dazu geeignet, jede traurige Stimmung zu verscheuchen.

Beim Anblick dieser glücklichen Familie vergaß ich ganz und gar, daß ich mich im Gefängnisse befand, ich glaubte vielmehr, Zeuge der schönsten Häuslichkeit zu sein, nur wenn ich zufällig den besorgten Blicken der Gräfin begegnete, erinnerte ich mich wieder, daß das Beil des Henkers noch immer drohend über dem edlen Haupte ihres Gatten schwebte. Ich gelangte immer mehr zu der Ueberzeugung, daß überall, wo die Liebe wohnt, selbst im Kerker das wahre Glück zu finden sei. Seitdem wiederholte ich öfters meine Besuche in der Zelle des Grafen und ich darf wohl sagen, daß ich die Stunden, welche ich in seiner Gesellschaft und in der seiner liebenswürdigen Familie zubrachte, zu den genußreichsten und angenehmsten zählte. Wie ich später erfuhr, hatte die Gräfin einen eben so kühnen, als klug erdachten Plan zur Flucht ihres Mannes ersonnen, wobei sie mit einem seltenen Muthe und mit wahrhaft heroischer Aufopferung zu Werke ging. In meiner Eigenschaft als Beamter durfte sie mich nicht in’s Vertrauen ziehen, aber das hielt sie nicht ab, mich mit immer gleicher Freundlichkeit zu behandeln. Die Ausführung unterblieb hauptsächlich wegen des seltsamen Ausganges, den der Proceß des Grafen nahm. Zum dritten Male vor ein Schwurgericht gestellt, sprachen die Geschworenen über den Angeklagten ihr „Schuldig“ aus, wogegen die Richter von Neuem sich incompetent erklärten und die sofortige Freilassung des Grafen beschlossen, ohne Furcht und Scheu vor der Regierung, welche durchaus den Grafen verurtheilt wissen wollte. Jetzt riethen seine Freunde und auch ich ihm zur schleunigen Abreise, um sich nicht neuen Verfolgungen auszusetzen. Auf unser wiederholtes Drängen eilte er in Begleitung seiner Frau über die Grenze nach der Schweiz, wo er noch gegenwärtig in den angenehmsten Verhältnissen lebt, einer von den Wenigen, die ihrer Ueberzeugung unter allen Verhältnissen treu geblieben sind. Ergreifend war der Abschied für mich, die Gräfin händigte mir noch eine goldene Kapsel zum Andenken ein, welche das gemeinschaftliche Bild der mir theuren Familie enthielt.

Minder günstig gestaltete sich das Schicksal der übrigen politischen Gefangenen aus jener Zeit, welche meist zu langjährigen Strafen verurtheilt, das Loos der gemeinsten Verbrecher theilen müssen und häufig zu Arbeiten verwendet werden, deren sie vermöge ihrer Bildung und selbst wegen der Natur ihrer Verschuldung überhoben sein sollten. Oft äußerte ich darüber mein Bedenken vor mir befreundeten Richtern und sie stimmten mir bei, wenn ich für politische Verbrecher die Verbannung als die einzige entsprechende und zweckmäßige Strafe vorschlug, wobei ich freilich nicht an das pestartige Cayenne dachte.

Noch ein schwerer Gang war mir zu thun übrig, den zum Tode Verurtheilten, der morgen mit Anbruch des Tages hingerichtet werden sollte, in seiner Zelle zu besuchen. Unterwegs kam ich an der Gefängnißkirche vorüber, welche offen stand, da heute ausnahmsweise an einem Wochentage Gottesdienst stattfand. Ich konnte nicht vorbeigehen, ohne einzutreten. Ein trübes Licht fiel durch die matt geschliffenen Scheiben. Zu beiden Seiten saßen die Sträflinge, doch so, daß sie nicht miteinander in Berührung kommen durften. Außerdem war eine gehörige Anzahl von Aufsehern vorhanden, um jede verdächtige Annäherung zu vermeiden. Es war eine seltsame Gemeinde, welche sich hier vereinigte, um ihrem Gott zu dienen. Welch’ ein Ausdruck in den verschiedenen Physiognomiken, welch’ eine Gallerie von wechselnden Gestalten; hier die tiefste Reue und Zerknirschung, die an Verzweiflung grenzte; dort der finstere Trotz, der lästernde Hohn, oder der unverbesserliche Leichtsinn. Wie nachlässig hielt dort der freche Bursche das Gesangbuch, darüber hinauf zu dem Chore schielend, wo die Frauen ungesehen hinter dem Gitter ebenfalls ihre Andacht verrichteten. Sein Nachbar war ein junger Mensch mit blonden Gesichtszügen, der aus Leichtsinn nur gesündigt hat; er blickte mit tiefer Andacht in sein Buch und dachte wohl dabei mit Rührung der Zeit, wo er mit seinen frommen Eltern noch zur Kirche ging und nicht einschlafen konnte, bevor er gebetet hatte. Grimmig schaut der Wilde dort mit geballten Fäusten vor sich nieder, seine aufgeworfenen Lippen umspielt ein höhnisches Lächeln über den ganzen Pfaffentrug und das Gaukelspiel, wofür er die Religion hält; er selber glaubt nichts mehr und verachtet diejenigen unter seinen Schicksalsgefährten, welche sich jetzt an den Himmel anklammern, als ausgemachte Heuchler und Dummköpfe. Der schwarze Krauskopf in der Ecke wirft während des Gebetes einem entfernten Cameraden Blicke des Einverständnisses zu und sucht sich ihm durch Zeichen bemerkbar zu machen. Irre ich nicht, so verabreden sie ihre Flucht, oder eine falsche Aussage vor dem Richter, um sich loszulügen. Dennoch wurde ich von einer tiefen Andacht hier ergriffen und mit einer nie gekannten Rührung lauschte ich dem wunderbar fesselnden Gesange der Sträflinge. Erschütternd klang die Predigt des Geistlichen, der jetzt die Kanzel bestieg. Er schien von seiner Aufgabe erfüllt zu sein, in diesen erstorbenen Herzen den göttlichen Funken wieder zu erwecken und das Saatkorn des Heils auf solchen steinigen Boden auszustreuen. Als er im Verlaufe der Rede des zum Tode verurtheilten Delinquenten erwähnte und diese Gemeinde aufforderte, für seine Vergebung den himmlischen Richter zu bitten, da der irdische keine Gnade haben darf, da sah ich manches trockene Auge sich mit Thränen füllen, manche trotzige Lippe erbeben, die Wangen erbleichen und ein leises Schluchzen wurde hörbar in der stillen Kirche. Gerade im Gefängnisse hat die Religion mit ihrer segnenden, heilenden und tröstenden Kraft eine erhabene Aufgabe zu erfüllen, die allerdings meist durch übertriebenen Eifer, zelotische Strenge und pietistische Richtung nicht besonders gefördert wird.

Beim Herausgehen aus der Kirche begegnete ich noch einem seltsamen Zuge. Auf den Armen einer blassen Frau wurde ein weinendes Kind zur Taufe getragen; es war von der gefangenen Mutter im Kerker geboren und sollte jetzt in Gegenwart von Verbrechern in die Gemeinschaft der christlichen Kirche aufgenommen werden. Welche Schicksale hat diese arme Menschenpflanze ferner zu erwarten? – Es steht vielleicht am Anfange der fürchterlichen Laufbahn, welche der Hinzurichtende morgen gewaltsam beschließen wird. Mit diesen Gedanken noch beschäftigt, trat ich in die dunkele Zelle. Der Delinquent saß zwischen zwei Wächtern, welche ihn von nun an bis zum letzten Augenblicke nicht mehr verlassen dürfen. Sein Gesicht war blutleer, eine aschgraue Todtenfarbe lagerte bereits auf seinen eingefallenen Wangen, gespenstisch flackerten seine Augen wie Irrlichter umher. Niemals werde ich diesen hoffnungslosen und doch nach Hülfe ringenden Blick vergessen. So schonend als möglich suchte ich mich meines Auftrages zu entledigen, um seinen Gesundheitszustand, wie es das Gesetz forderte, zu constatiren. Ich nahm seine Hand und fühlte den Puls, der in unzählbaren Schlägen mir die innere Angst verrieth und wie ein zu Tode gehetztes Pferd dahinkeuchte. Trotzdem bestrebte sich der Verurtheilte, mir und den Wächtern gegenüber einen erheuchelten Muth zu zeigen, indem er mit Aufwand seiner letzten Willenskraft matt zu lächeln versuchte. Es war dies noch ein Rest menschlicher Eitelkeit, die man bei den meisten Verbrechern selbst im Augenblicke des Todes findet; sie setzen eine Art Ehre darein, wenigstens mit Muth und ohne Zeichen von Feigheit zu sterben. Besonders war dies früher der Fall, wo aus den Hinrichtungen noch ein öffentliches Schauspiel gemacht wurde und der Delinquent gleichsam eine Rolle spielte. Durch die neue Einrichtung fällt dieser Grund fort, und ich habe die Bemerkung gemacht, daß die Verurtheilten jetzt weit angegriffener und niedergedrückter dem Tode entgegengehen.

Der Verbrecher, der morgen hingerichtet werden sollte, war keineswegs von seiner Geburt zu einem ähnlichen Geschick bestimmt. Seine Eltern hatten ihm eine angemessene Erziehung gegeben, aber von Jugend auf zeigte er einen deutlich ausgesprochen Hang zur Verschwendung und zum liederlichen Leben, wobei es ihm vollkommen gleichgültig war, wie und womit er denselben befriedigte. Oefters hatte er seinen Eltern und Anverwandten bedeutende Summen entwendet, um diese mit seinen Spießgesellen, und besonders in Gesellschaft von ausschweifenden Frauen, zu verjubeln. Der strenge Vater hatte vielleicht allzu streng jeden möglichen Besserungsweg für den verlorenen Sohn angewendet; er gab ihn zum Militair,

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 415. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_415.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2022)