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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

In einer Länge von zweihundert Metres erscheint vor unsern erstaunten Augen die imposante Façade, an welcher wir nicht weniger, als hundertunddreiunddreißig Fenster zählten. Man kann sich darnach ungefähr einen Begriff von ihrer riesigen Ausdehnung machen. Vor derselben befinden sich Gartenanlagen, welche von den Invaliden selbst bebaut werden. Es macht einen eigenen und angenehmen Eindruck, hier die alten Soldaten so friedlich mit ihren Blumenbeeten und mit dem Anpflanzen und Begießen ihres Kohls beschäftigt zu sehen. Sie scheinen insgesammt eine besondere Vorliebe für diese ländliche Arbeiten zu haben, und gern jetzt das Schwert mit dem Rechen, die Büchse mit der Gießkanne zu vertauschen. Vier Etagen hoch steigt das Hotel der Invaliden empor, mit kriegerischen Emblemen im einfachen Style verziert. Am Eingange stehen die Statuen des Mars und der Minerva. In der Mitte ruht auf jonischen Säulen ein massiver Bogen, von Trophäen aller Art geschmückt; darunter die Bildsäule Ludwig XIV. zu Pferde, umgeben von der „Gerechtigkeit“ und der „Vernunft,“ die ihm beide bei Lebzeiten meist fern standen. Das Piedestal trägt die Inschrift: „Ludwig der Große schuf dieses Gebäude mit königlicher Freigebigkeit, das Schicksal der Krieger für immer sicher stellend, im Jahre 1675.“ An die beiden Winkel der Façade schließen sich zwei Seitenflügel mit Figuren der besiegten Nationen und einem Uhrwerk an, das von der „Zeit“ und der „Arbeit“ gehütet wird.

Auf unserm Wege wurden wir von allen Seiten mit Beschreibungen und Abbildungen des Kaisergrabes bestürmt. Unter den Verkäufern fiel uns ein Mann auf, der keineswegs die Zudringlichkeit seiner übrigen Collegen besaß. Er stand an einem Pfeiler gelehnt mit einem Bronzegesicht, als wäre er aus Erz gegossen. Wir näherten uns ihm und verlangten von ihm einen gedruckten Führer; er gab uns einen solchen und zwar mit englischem Text. Als wir diesen zurückwiesen und ein französisches Buch verlangten, hellten sich seine finsteren, starren Züge, mit denen er uns betrachtete, sichtbar auf.

„Verzeihen Sie,“ sagte er, „aber ich habe Sie für Engländer gehalten.“

Dies gab uns Veranlassung. uns mit ihm in ein Gespräch einzulassen. Wir erfuhren von ihm, daß er Santini[1] hieß und einer der Wenigen war, die Napoleon’s Gefangenschaft auf St. Helena getheilt hatten, wo er den Posten eines Portiers auf Longwood bekleidete. Er sprach, wie man sich denken kann, mit Enthusiasmus von dem großen Kaiser, und zeigte einen entschieden ausgesprochenen Haß gegen alle Engländer. So stand er vor uns eine lebendige Chronik der Kaiserzeit, eine Reliquie der Vergangenheit. Der ehemalige Begleiter und Diener Napoleon’s verkaufte jetzt die Geschichte und die Beschreibung des Kaisergrabes. Wir gaben ihm einige Sous mehr, als er zu fordern hatte, wofür er uns mit Würde dankte.

Vier Treppen führen in das Innere des Hotels, von denen wir auf gut Glück die eine wählten. Unterwegs trafen wir einen Officier, der uns mit Bereitwilligkeit Bescheid ertheilte, und sich von freien Stücken zum Führer anbot. Es war noch ein junger und gebildeter Mann, der im Kampfe gegen die Araber in Afrika ein Bein verloren hatte. Er gab uns interessante Schilderungen von dem dortigen Kriege, der meist in einer Reihe von Ueberfällen und Razzias besteht. Unter seiner Leitung gelangten wir in den kolossalen Speisesaal, dessen Wände mit Abbildungen der in Flandern, Holland, der Franche Comté und auch im deutschen Elsaß eroberten Städte geziert waren. Sämmtliche Gemälde hatten leider durch die Restauration gelitten, und boten keinen besonders angenehmen Anblick dar. Von hier gingen wir zunächst nach der Küche, wo in zwei wegen ihrer Größe berühmten Speisekesseln von einem kolossalen Umfange das Abendmahl eben bereitet wurde. Man versicherte uns, daß ihr umfangreicher Bauch hundert Kilogrammen Fleisch umfassen kann. Ein dicker Invalide, mit einem riesigen Kochlöffel bewaffnet, führte hier den Oberbefehl; er schien sich in seiner neuen Stellung sehr wohl zu befinden und auch hier, wenn auch nur trockene, Lorbeerblätter einzuernten. Nicht minder interessant sind die acht großartigen Schlafsäle, wo mehr als tausend Betten stehen. Wir machten auch die Bekanntschaft mit mehreren Invaliden, welche theils auf Stühlen saßen, theils herumstanden, darunter einige Elsasser und Lothringer, mit denen wir uns als halbe Landsleute in deutscher Sprache unterhielten. Die meisten dieser Leute waren schon hochbejahrt, altersschwach und stumpf. Nur wenige zeigten die französische Lebendigkeit und den heitern Sinn der Nation. Diese plauderten, lachten und scherzten untereinander und mit uns.

Mein Freund äußerte den Wunsch, einen blinden Invaliden zu zeichnen, dessen Figur ihn interessirte. So bald der alte Knabe, der beiläufig achtzig Jahre zählte, die Absicht des Malers von seinen Cameraden erfuhr, versteckte er sein Gesicht, weil er, aus irgend einem uns unbekannten Grunde, nicht gezeichnet werden wollte, hinter einem an der Wand herabhängenden Handtuch, hinter dem er von Zeit zu Zeit wieder schalkhaft, wie ein Kind von vier Jahren, hervorlauschte. Dabei sang und pfiff er den Refrain eines bekannten Volksliedes.

An einem Tische saßen zwei Invaliden, Brüder von achtzig und zweiundachtzig Jahren, neben ihnen eine reinlich gekleidete Frau und ein junges Mädchen. Eine Flasche Rothwein stand vor ihnen; sie luden uns zum Trinken ein und wir mußten mit ihnen ein Glas auf die Gesundheit des Kaisers leeren. Die Frau war die Tochter und das Mädchen die Enkelin des alten Burschen und zum Besuche hier. Sie erzählte ganz unbefangen, daß ihre Mutter nie verheirathet gewesen, wozu der alte Invalide lachte. Nichtsdesto weniger schien er ein sehr zärtlicher Familienvater zu sein und sich im Schooße seiner Familie und an ihrem Anblicke zu freuen. Er küßte abwechselnd die Tochter und seine Enkelin, wozu er sang: „Où peut-on ètre mieux, qu’au sein de sa famille!“ Hinter uns ging ein zweiundneunzigiähriger Greis, dem man die Müdigkeit und Abspannung ansah, zu Bette. Nur mühsam stieg er hinein, man sah ihm die höchste Anstrengung an. Sorgfältig hatte er zuvor seine Kleider zusammengelegt, als wollte er sie in den Tornister packen, um sogleich zum Abmarsch bereit zu sein, wenn der Appell geblasen wird; diesmal zum Abmarsch in die Ewigkeit.

An ähnlichen interessanten Bildern und Scenen fehlre es nicht, eben so wenig an einzelnen hervorragenden Persönlichkeiten. Der Graukopf dort mit dem Orden der Ehrenlegion hat an Napoleon’s Seite bei den Pyramiden Egyptens und auf den russischen Eisfeldern gefochten. Wenn er von der Vergangenheit spricht, beginnen seine erloschenen Augen zu funkeln und seine schlaffen[WS 1] Züge beleben sich. Die Erinnerung elektrisirt ihn, und um seine Lippen schwebt ein wehmüthig stolzes Lächeln, so oft er den Namen des Kaisers nennt. Sein Camerad hat den Arm bei Leipzig verloren, und ein Dritter bei Bellealliance beide Füße eingebüßt, welche ihm von einer Kanonenkugel zerschmettert wurden. Er war mit in Fontainebleau gewesen, als der Kaiser von seinen Garden Abschied nahm. Noch jetzt strömen ihm die Thränen aus den Augen, wenn er mit zitternder Stimme die alte rührende Geschichte erzählt, noch jetzt knirscht er mit den Zähnen, wenn er von den Marschällen spricht, deren Verrath er allein den Sturz Napoleon’s zuschreibt. Das ist sein Glaube und er hängt so fest daran, wie nur ein Märtyrer an seiner Religion. So lange noch in Frankreich dieser Cultus herrscht und von Gesellschaft zu Gesellschaft forterbt, so lange dürfte auch die Dynastie der Napoleoniden sich immer von Neuem wieder festsetzen, bis entweder durch ihre eigene Schuld, oder durch eine richtige Würdigung des genialen Usurpators das Volk zur Erkenntniß kommt. Noch ist sein Bild zu frisch, seine Erscheinung zu überwältigend, um sie mit Unbefangenheit zu messen, mit Gerechtigkeit zu wägen. Es war nicht der klügste Streich des überschlauen Louis Philipp, als er, um die Parteien zu versöhnen, die Asche des Kaisers von St. Helena nach Frankreich kommen und im Dome der Invaliden zu Paris beisetzen ließ. Die Asche dieses todten Vulcans war noch immer zu gefährlich für die Julidynastie; sie barg den glimmenden Funken, der in einer Nacht das Haus der Orleans verzehrte.

Der Dom der Invaliden, welcher jetzt die Ueberreste Napoleon’s umschließt, ist ein prachtvolles Gebäude, von demselben Baumeister errichtet, der für Ludwig XIV. Versailles mit seinen Schlössern schuf. Vierzig korinthische Säulen tragen die stattliche Attika, welche von der mächtigen mit Blei gedeckten Kuppel überragt wird, gekrönt von der zierlichen Spitze, die 105 Metres emporsteigt. Das Innere entspricht in würdiger Weise der äußeren Pracht. Die zwei übereinander gethürmten Kuppeln, welche sich auf acht Arcaden stützen, erregten unsere Bewunderung. Doch vorzüglich nahm die Krypte, worin das Kaisergrab sich erhebt, unsere Aufmerksamkeit in Anspruch. Mit einem Gefühl von schauernder Ehrfurcht stiegen wir die Treppe herab, welche zu derselben führt.

  1. Siehe Gartenlaube 1854. Nr. 51.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: schaffen
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 429. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_429.jpg&oldid=- (Version vom 8.9.2022)