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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

Daß Frau von Kurow nur die Gesellschaft des jungen Edelmannes gesucht habe, um denselben für ihre Tochter zu prüfen, daran zweifelte der alte Praktikus sehr stark, obwohl Clemens alle Gründe dafür erschöpfte, aber er behielt seine Zweifel für sich, weil er mehr Schaden als Nutzen daraus erwachsen sah, wenn Lucilie die Wahrheit erfuhr.

Das Geständniß des jungen Mannes „von der Liebenswürdigkeit der Dame hingerissen, zu warmen Empfindungen verleitet worden zu sein, die jedenfalls nach kurzer Zeit das Unglück seines Lebens ausgemacht haben würden,“ begleitete er mit vielsagendem Kopfnicken.

„Der Tod ist hier als Retter aus unabsehbaren Mißlichkeiten aufgetreten,“ sprach er, indem er Luciliens Briefe zu lesen sich anschickte. Ein freundliches Wohlwollen überflog sein Gesicht, als er hinzufügte: „Fräulein Lucilie ist ein prächtiges Mädchen, lieber Herr von Schlabern, aber sie ist fähig, einer Maxime wegen ein ganzes, langes Leben voller Entbehrung auf sich zu nehmen, und ich behaupte, daß sie bei dem mindesten Zweifel an Ihrem Charakter niemals Ihre Gattin wird. Also rathe ich Vorsicht! Es gibt Lagen des Lebens, wo Schweigen besser ist denn Reden – und rasches festes Handeln zweckmäßiger, als zaghafte Bescheidenheit! Lassen Sie die nächsten Tage hingehen, bevor Sie das Fräulein besuchen – ich werde ihr den Brief der Mutter, den sie zurückverlangt, übergeben und damit den Grund zu einem vertraulichen Verkehr legen. Im Publicum baue ich auch vor. Die sorgliche Mutterliebe der seligen Frau von Kurow soll dabei nicht schlecht wegkommen. Man weiß, daß ich der Dame stets das Wort geredet habe und ein Verehrer ihrer Vortrefflichkeit gewesen bin – mag nun die Auslegung des Verhältnisses zwischen ihr und Ihnen als ein Document meiner richtigen Beurtheilung gelten.“

Herr von Schlabern sah die Weisheit dieses Vorschlages wohl ein, indeß sein ehrenhafter Sinn sträubte sich gegen einen Rückhalt, welcher bei späterm Vertrauen gegen das Fräulein einen Schatten auf seinen Charakter werfen mußte. Der Doctor schüttelte herzhaft den Kopf zu dieser Einwendung.

„Braucht denn eine Frau Alles zu wissen?“ fragte er ruhig. „Die Seele des Mannes trägt fester und sicherer ein Geheimniß, das sein Eheglück beeinträchtigen kann, wenn er es ganz und gar verbirgt, Tritt ein Hauch davon über seine Lippen, so widersteht er den Forderungen unbedingter Aufklärungen nicht, die eine geliebte Gattin an ihn macht. Was haben Sie denn zu gestehen? Nichts als Vermuthungen! Selbst Ihre eigene Hinneigung zu der liebenswürdigen Dame, die ein Jahrzehnt mehr zählte, als Sie, ist nicht der Rede werth. Man bewundert ja wohl einmal eine Dame – man fühlt sich angesprochen – man wird auch momentan warm –! Lieber junger Freund, Ihr Idealismus wird erst erbleichen müssen, ehe Sie ein vernünftiger Ehemann werden. Sie haben nun meine Ansichten gehört. Jetzt will ich zum Fräulein und forschen, wie sie denkt. Bevor ich Sie aber verlasse, fordere ich Ihr Ehrenwort, daß Sie niemals im Leben wieder zu dem verwünschten Medicament greifen, welches Pulver und Blei heißt.“

Clemens faßte, gerührt und beschämt zugleich, die Hand des wackern Arztes, die er ihm darbot, als er ihn verließ. Er fühlte seine Zuversicht auf günstige Entwickelungen der Verhältnisse steigen, seitdem er in demselben einen Rathgeber gewonnen hatte, und mit welchen Empfindungen schauete er nun rückwärts auf die Entschlüsse seines exaltirten Herzens! Wie geneigt wurde er, sich mit seinen überspannten und romanhaften Begriffen von Ehre zu belächeln! Wie verschieden war das Licht, welche seine Handlungsweise heute beleuchtete! Die Gluth der Einbildungskraft, die ihm das Sterben so leicht gemacht, war erloschen und ein Zeitraum von vierundzwanzig Stunden hatte hingereicht, einen totalen Umschwung aller Ansichten hervorzubringen und seinem Geiste eine neue Spannkraft zu verleihen.

Unter der Obhut des allgemein geachteten Doctors ebnete sich dann auch bald der Weg zur Vereinigung zweier Menschen, deren Lebenssterne eine merkwürdige Constellation zeigten. Lucilie erfuhr nichts, was ihre heilig stille Seligkeit stören konnte. Sie wurde in dem festen Glauben des Geliebten Gattin, daß der Segen ihrer Mutter dies Band geknüpft habe.




Sterben, Tod und Scheintod.

Sie sind „todt, gestorben, Leichen“ pflegt man von den sogenannten organischen oder belebten (lebenden, lebendigen) Geschöpfen, – zu denen nicht etwa blos die Menschen, sondern auch die Thiere und Pflanzen gehören, – zu sagen, sobald in ihnen der Stoffwechsel (s. Gartenlaube 1854. Nr. 9.) und mit diesem die Lebenserscheinungen erloschen sind. Da man nun die organischen Körper oder Organismen, also die Pflanzen, Thiere und Menschen, auch „beseelte“ nennt, so besteht noch der Gebrauch bei dem Tode derselben zu sagen: „die Seele sei entflohen.“ Man denke hierbei nun aber nicht etwa an ein unsichtbares, immaterielles Etwas, was wirklich aus dem sterbenden Körper forteilt, nachdem es während des Lebens als Lenker der Lebensthätigkeiten irgendwo im Körper residirte, sondern es ist damit nur angedeutet, daß durch irgend eine Ursache das die Lebensthätigkeiten veranlassende Zusammen- und Aufeinanderwirken der Körperstoffe und somit der Stoffwechsel aufgehoben worden ist. In diesem Sinne läßt sich anstatt des Wortes „Seele“ auch der Ausdruck „Lebenskraft“ gebrauchen. Von Vielen, ja sogar auch von den Gelehrten, die für und gegen den Materialismus schreiben, wird nun aber, jedoch ganz mit Unrecht, Seele gleichbedeutend mit „Geist“ gebraucht; von diesem ist natürlich hier durchaus nicht die Rede. Gebraucht man Seele in unserem Sinne, so hat also die Pflanze ebenso wie das Thier und der Mensch eine Seele, und es stirbt die Pflanze und wird zur Leiche gerade so wie das Thier und der Mensch.

Ein Organismus, wie der menschliche, stirbt (d. h. verliert den Stoffwechsel und mit diesem seine Thätigkeit) nicht in allen seinen Theilen in ein und demselben Momente. Bisweilen ist die Hirnthätigkeit (Bewußtsein, Gefühl, Verstand) bereits erloschen, während die Herz- und Lungenthätigkeit, sowie die Darmbewegungen noch eine Zeit hindurch fortbestehen. Dieses allmähliche und theilweise Absterben pflegt man mit dem Ausdruck „Agonie, Todeskampf“ zu bezeichnen und die dadurch erzeugten Erscheinungen, welche theilweise noch dem Leben, theilweise schon dem Tode angehören, nennt man Sterbe- oder Agonieerscheinungen. Je nachdem nun die eine oder die andere der hauptsächlichsten Lebenthätigkeiten früher als die übrigen wegfällt, danach hat man „einen Tod durch Ohnmacht, durch Stickfluß und durch Schlagfluß“ angenommen. Bei dem Tode durch Ohnmacht (Synkope) weicht die Herzthätigkeit zuerst, beim Stickfluß (Erstickung, Asphyxie) hört die Lunge und beim Schlagflusse (Apoplexie) das Gehirn zuerst auf thätig zu sein.

Die Lebensdauer des Menschen, welche nicht künstlich verlängert, wohl aber künstlich verkürzt werden kann, reicht beim naturgemäßen Verlaufe des Lebens gewöhnlich bis in die siebziger oder achtziger Jahre, bisweilen auch noch etwas weiter und der Tod erfolgt hier ohne vorhergegangene Krankheit, ohne nachweisbare besondere Ursache, sanft und allmählich oder rasch, merklich und mit Bewußtsein oder unvermerkt im Schlafe. Ein solcher Tod, durch Altersschwäche (Marasmus), ist der natürliche, normale, nothwendige. – Jede Todesart nun, welche von einer andern Veranlassung als der naturgemäßen Beendigung des Lebensprocesses (Stoffwechsels) herrührt, ist unnatürlich (abnorm, zufällig, frühzeitig) und erfolgt entweder durch Krankheit (durch falsches Vonstattengehen des Stoffwechsels), mehr oder weniger schnell, oder gewaltsam, durch äußere mechanische oder chemische Einflüsse. – Je nachdem nun beim unnatürlichen Tode die Sterbeerscheinungen mehr oder weniger deutlich hervorteten, längere oder kürzere Zeit andauern, bezeichnet man folgende Todesarten: einfacher Erschöpfungstod, bei welchem sich die Sterbeerscheinungen ganz allmählich aus schon vorhandenen krankhaften Zuständen entwickeln, so daß die Zeit ihres Beginns mit Bestimmtheit nicht ermittelt werden kann, und sich dann in mehr oder minder stetiger Aufeinanderfolge bis zum endlichen Erlöschen des Daseins steigern. Beim Sterben unter Todeskampf nehmen die Sterbeerscheinungen einen deutlich wahrnehmbaren Anfang und haben einen mehr oder weniger scharf begrenzten Verlauf. Der Tod wird ein langsamer oder rascher genannt, je nachdem die Sterbeerscheinungen längere oder kürzere Zeit währen. Beim

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 479. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_479.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)