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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

mit dem Kopfe. Theodor war von einem schweren Nervenfieber befallen, darüber konnte nunmehr kein Zweifel sein. Diese Nachricht versetzte Clementinen in einen Zustand der höchsten Aufregung, sie fürchtete für sein Leben und auch für – das ihrige. Sie dachte wohl zunächst nur an die Gefahr und die Leiden ihres Verlobten, hinterdrein aber auch an die Möglichkeit, sich selber durch ihr Verweilen in der Nähe des Patienten eine Ansteckung zuzuziehen. In dieser Meinung wurde sie durch die Präsidentin nur noch mehr bestärkt. So oft sie die Commerzienräthin besuchen wollte, hatte sie erst einen förmlichen Kampf zu bestehen.

„Du kannst dort nichts nützen,“ sagte die besorgte Mutter, „und regst Dich nur unnöthiger Weise auf. Willst Du Dich denn mit aller Gewalt anstecken?“

„Aber meine Pflicht,“ wandte die Tochter schüchtern ein, die sich gern durch derartige Gründe überzeugen ließ.

„Auch die Pflicht hat ihre Grenzen. Wenn Du Theodor’s Frau schon wärest, hätte ich nichts dagegen einzuwenden. Vorläufig bist Du nur noch seine Verlobte.“

Nichts desto weniger ließ sich Clementinens besseres Gefühl nicht gänzlich unterdrücken; sie ging jeden Tag zur Commerzienräthin, aber nur selten noch betrat sie die Krankenstube selbst, weil ihr der Anblick des Patienten ein zu großes Entsetzen einflößte.

Sie wurde von einer förmlichen Angst befallen, wenn sie die abgemagerte Gestalt ihres Verlobten erblickte, und seine wirren Phantasien hörte. Meist lag er ohne Bewußtsein da, und er schien seine Umgebung kaum noch zu erkennen. Die Mutter und Gertrud theilten sich in seine Pflege, und wichen nicht von seinem Lager; besonders zeigte die Letztere eine Sorge und Aufopferung für den Leidenden, welche alle Begriffe überstieg. Das treue Mädchen hatte schon mehrere Nächte nicht geschlafen, die sie an seinem Lager zubrachte. Mit zärtlicher Aufmerksamkeit belauschte sie jeden Athemzug, seine leisesten Bewegungen; sie errieth seine Wünsche, die er nur durch dunkle Zeichen oder unverständliche Laute zu äußern vermochte. Bald reichte sie ihm mit ihren Händen die Medicin zur vorgeschriebenen Stunde, bald den erquickenden Labetrunk, den er von ihr am liebsten zu nehmen schien. Dabei klagte sie niemals über Ermüdung; sie schien wahre Riesenkräfte in dem zarten Körper zu beherbergen. Vergebens bat sie die Commerzienräthin, mit ihr in der Pflege abzuwechseln, und sich einige Ruhe zu gönnen; sie blieb fest auf ihrem Posten. Ein kurzer halbstündiger Schlaf auf dem Lehnstnhl genügte ihr, aber der Kranke brauchte sich nur zu rühren, und sie war schon wieder wach, voll Aufmerksamkeit und immer unverdrossen. Dem Leidenden und seiner Umgebung gegenüber zeigte sie stets eine heitere Miene voll Hoffnung und Zuversicht; nur wenn sie sich unbemerkt sah, oder wenn sie glaubte, daß Theodor schlafen mochte, verrieth sie ihr Mitgefühl durch ihre Thränen, die sie schnell wieder trocknete, sobald sich Jemand näherte. Alle Welt ließ ihrer Hingebung die vollste Gerechtigkeit widerfahren, obgleich sie sicher nicht darauf rechnete; am meisten aber der alte Medicinalrath, dessen erklärter Liebling Gertrud wurde.

„Sie sind ein Engel,“ pflegte er zu sagen. „Ja, ja! Ohne solche gute Geister, welche der Himmel zuweilen auf die Erde schickt, möchte ich nicht Arzt sein; sie helfen mehr, als alle Medicin. Dafür sollen Sie auch,“ setzte der alte Herr scherzend hinzu, „einen guten Mann bekommen. Am liebsten würde ich Sie zur Frau nehmen, wenn ich nicht schon für Sie zu alt wäre. Mit einer solchen Krankenpflegerin getraue ich es mir, auf hundert Jahre und noch mehr zu bringen.“

Gertrud erröthete, und entzog dem Medicinalrath ihre Hand, die er in der seinigen festzuhalten suchte.

„Aha!“ lächelte er. „Ich habe wohl den rechten Fleck getroffen, liebe Collegin!“ So nämlich pflegte sie der Medicinalrath im Scherz zu nennen. „Diese plötzliche Röthe läßt mich auf eine ziemlich weit vorgeschrittene Krankheit des Herzens schließen, die man im gewöhnlichen Leben Liebe nennt. Allgemeine Symptome: fliegende Hitze, schneller Puls, glänzende Augen, leise Delirien, stille Seufzer et caetera, et caetera. Aber zum Teufel! Da hab’ ich wohl was Schönes angerichtet? Thränen, Thränen in den frommen Augen. Habe ich Ihnen weh gethan? Das wollt’ ich meiner Seele nicht. Verzeihen Sie einem alten Mann, wenn er etwas Ungehöriges gesagt.“

Und sie verzieh ihm gern, und schaute ihn wieder unter Thränen lächelnd an.

Nach dieser kleinen Episode trat der würdige Arzt mit dem gebührenden Ernste an das Krankenbett, um den Zustand des Patienten aufmerksam zu untersuchen. Mit welcher Spannung folgte Gertrud seinen Mienen, mit welcher Aufmerksamkeit lauschte sie auf seine Anordnungen, mit welcher Aufregung hörte sie auf seinen Ausspruch, von dem ihr Tod und Leben abzuhängen schien! Ihr gegenüber sprach sich auch der Medicinalrath weit offener aus, da er die mütterlichen Gefühle der Commerzienräthin schonen wollte. Deshalb verschwieg er auch Gertrud nicht seine ernstlichen Besorgnisse und zunehmenden Befürchtungen, indem er bei ihr zwar einen hohen Grad von Theilnahme, aber nicht jene Liebe einer Mutter für ihren einzigen Sohn mit Recht voraussetzen durfte. Der erfahrene Praktiker ließ sich freilich durch den äußeren Anschein, so wie alle Welt täuschen.

Ruhig und mit jener erlaubten Verstellung, die den Frauen bei ähnlichen Gelegenheiten zu Gebote steht, nahm sie mit Fassung seine Mittheilungen hin, ohne durch irgend eine Bewegung ihr Inneres zu verrathen. Der Commerzienräthin zeigte sie stets ein unbefangenes Gesicht, vor ihr führte sie die Sprache der zuversichtlichsten Hoffnung, obgleich sie selbst die Gefahr des Patienten am besten kannte. So rechtfertigte sie die Bezeichnung des Arztes: wie ein Engel half sie pflegend, tröstend, die Gebrochenen aufrichtend, nur für Andere bedacht, sich selbst verleugnend.

„Heute Nacht,“ hatte ihr der Medicinalrath beim Abschiede leise zugeflüstert, „tritt wahrscheinlich die Krisis ein. Wenn die Kraft des Patienten ausreicht, so ist er gerettet; aber ich zweifle. Ich werde gegen Mitternacht noch einmal kommen. Sagen Sie aber der Commerzienräthin nichts davon. Die gute Frau dauert mich; sorgen Sie, daß sie sich schlafen legt; sie wird ohnehin ihre ganze Kraft brauchen, um den furchtbaren Schlag zu tragen. Arme Mutter!“

Gertrud blieb allein an dem Lager des Kranken zurück; sie saß mit gefalteten Händen und betete, still für seine Rettung zum Himmel flehend. Düster brannte die Nachtlampe, und beleuchtete das bleiche, eingefallene Gesicht des Patienten. In dem Zimmer herrschte ein trauriges Schweigen, nur von dem eintönigen Picken der Wanduhr unterbrochen. Immer näher rückte die verhängnißvolle Stunde der Entscheidung, wo die jugendliche Lebenskraft sich noch einmal zum Kampfe mit dem unerbittlichen Tode rüstete.

Jetzt begann jenes fürchterliche Ringen, jener entsetzliche Streit der dunklen Gewalten, das geheimnißvolle Wirken und Weben der Natur, welche dem leise heranschleichenden Tode sich noch einmal aufraffend entgegenstellte. Schauerlich tönten die wirren Phantasien des Bewußtlosen, furchtbare Krämpfe schüttelten den abgemagerten Körper, wie von unsichtbaren Fäusten gepackt; dumpfes Röcheln und Stöhnen aus der gepreßten Brust unterbrachen die ängstliche Stille.

Es war ein entsetzliches Schauspiel für die einsame Gertrud, welche die Commerzienräthin entfernt hatte, um ihr den schrecklichen Anblick zu ersparen; und doch war es nur der Beginn jener traurigen, unabwendbaren Katastrophe. Die treue Pflegerin näherte sich dem mit dem Tode Ringenden, um durch die verordnete Medicin das erlöschende Leben anzufachen, aber in einem Anfalle krankhafter Wuth stieß er sie fort, und schlug mit der geballten Faust nach ihr. Er kannte nicht mehr seinen Schutzengel; da schwand auch die letzte Hoffnung aus ihrer Brust. – Gegen Mitternacht kam der Medicinalrath, wie er es ihr versprochen hatte; er fühlte nach dem Pulse des Patienten, und horchte mit gespannter Aufmerksamkeit auf die immer schwächer werdenden Schläge des Herzens.

„Wenn Gott nicht Rettung schickt,“ sagte der würdige Arzt mit ernster Miene, „so muß der Kranke sterben. Ich gebe ihm höchstens eine Stunde Zeit.“

„Ewige Barmherzigkeit!“ schrie Gertrud auf, und wurde so bleich, als hätte sie ihr eigenes Todesurtheil aus dem Munde des Arztes gehört.

Sie schwankte und drohete umzusinken; doch im nächsten Augenblick besiegte sie wieder diese Anwandlung einer natürlichen Schwäche; sie fühlte, daß sie noch Pflichten hier zu erfüllen habe. Deshalb bezwang sie mit der größten Anstrengung diese Ohnmacht; nur die hervorbrechenden Thränen vermochte sie nicht zu verbergen.

„Was wird seine Mutter sagen?“ rief sie schmerzlich bewegt. „Sie wird den Tod ihres einzigen Sohnes nicht überleben.“

„Gott wird sie trösten,“ erwiderte der Medicinalrath, der am

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 503. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_503.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)