Seite:Die Gartenlaube (1857) 651.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1857)


Aufruf zur Bildung von volkswirthschaftlichen Vereinen.




Eine große Anzahl deutscher Mitglieder des Wohlthätigkeitscongresses hat es für ihre Pflicht gehalten, über die internationalen Bestrebungen die Interessen ihres eigenen Vaterlandes nicht zu vergessen. Sie konnten sich nicht verhehlen, daß der Zweck des Congresses, die Entfernung und Linderung der Armuth, am wirksamsten durch Beseitigung der Ursachen derselben zu erreichen sei. Die mächtigste derselben ist die Unkenntniß der Gesetze der Volkswirthschaft. Es wurde daher in einer besonders abgehaltenen Versammlung die Bildung von volkswirthschaftlichen Vereinen in größeren und kleineren Städten Deutschlands, selbstständig oder im Anschluß an die bereits bestehenden gewerblichen und landwirthschaftlichen Vereine, vorgeschlagen, welche bemüht sein sollen, zur Verbreitung richtiger volkswirthschaftlicher Begriffe und zur Anlegung besserer wirthschaftlicher Einrichtungen beizutragen.

Damit erklärten sich die Anwesenden, namentlich die unten verzeichneten Mitglieder einverstanden.

Es trat hierauf ein nach Bedürfniß zu verstärkender Redactionsausschuß zusammen, welcher bis zur definitiven Organisation der Sache durch einen künftigen Congreß es sich zur Aufgabe machen wird, ein Zusammenwirken der in jener Richtung thätigen Kräfte anzubahnen. Dieser Ausschuß besteht vorläufig aus den Herren Dr. Pickford in Heidelberg, Max Wirth, Herausgeber des „Arbeitgeber“ in Frankfurt, und Dr. Böhmert, Redacteur des „Bremer Handelsblattes“ in Bremen. Zum provisorischen Vorort wurde Bremen gewählt, und zum Geschäftsführer des Redactionsausschusses bis auf Weiteres Dr. Böhmert ernannt.

Anfragen, Vorschläge, Anmeldungen gebildeter Vereine u. s. w. sind an den Geschäftsführer einzusenden.

Frankfurt a. M., den 16. September 1857.

(gez.)  Geheimrath Mittermaier aus Heidelberg. Präsident Dr. Lette aus Berlin. Geheimrath Professor Schubert aus Königsberg. Hofrath Welcker aus Heidelberg. Staatsrath Friedländer aus Heidelberg. Director Hoyer aus Vechta in Oldenburg. Herm. Schulze aus Delitzsch. Professor Dr. Makowizka aus Erlangen. Geheimrath Rau aus Heidelberg. Dr. Asher aus Hamburg. Director A. Varrentrapp aus Frankfurt. Regierungspräsident Francke aus Koburg. Consul Reinach aus Frankfurt. H. S. Hertz aus Hamburg. Max Wirth aus Frankfurt. Dr. Pickford und Dr. C. Dietzel aus Heidelberg. Dr. Böhmert aus Bremen. Dr. K. Birnbaum aus Gießen. Professor Stubenrauch aus Wien. Dr. Professor A. Ahrens aus Gratz. Dr. S. Neumann aus Berlin.

Kaum wird der vorstehende „Aufruf“, für den schon die Namen der unterzeichneten wissenschaftlichen Autoritäten sprechen, und dessen Verbreitung sich die gesammte deutsche Tagespresse zur Ehrenpflicht gemacht hat, einer besonderen Empfehlung bedürfen. Ueber die außerordentliche Wichtigkeit volkswirthschaftlicher Kenntnisse für das gesammte Staats- und Gewerbsleben einerseits, und die unglaubliche Unwissenheit auf diesem Felde, selbst bei sonst gebildeten Leuten, sind alle Kundigen einig. Bei dem augenfälligen Streben unseres Volkes, namentlich unserer Gewerbtreibenden und Arbeiter, nach einer besseren wissenschaftlichen Vorbildung für ihren Beruf, welches besonders die Naturwissenschaften neuerlich in seinen Kreis zieht, ist die Vernachlässigung der Volkswirthschaftslehre um so auffälliger, als es dieselbe mit der brennendsten unserer Tagesfragen, der socialen, unmittelbar zu thun hat. Da dem nun aber einmal so ist, so werden einige Winke am Platze sein, in welcher Weise diese Gleichgültigkeit des Publicums zu überwinden und die wünschenswerthe allgemeine Betheiligung am zweckmäßigsten zu erzielen sein wird.

Nach den Erfahrungen des Unterzeichneten ist dies nur durch Herauskehrung der praktischen Seite der Sache zu bewirken. Nicht blos volkswirthschaftliche Kenntnisse verbreiten, sondern auch zu praktischen Organisationen und Unternehmungen auf diesem Felde anregen und die Hand bieten wollen die beabsichtigten Vereine, insbesondere sind es die auf vernünftiger Selbsthülfe der arbeitenden Classen beruhenden Associationen, deren Förderung sie sich angelegen lassen sein werden, wie denn ein von dem Unterzeichneten in Frankfurt gehaltener Vortrag über Associationen zu dem Aufrufe und dem Beitritt der verzeichneten Congreßmitglieder Gelegenheit gab. Vereinigen sich nun namentlich, wie der Aufruf andeutet, diese volkswirthschaftlichen mit den schon vielfach bestehenden Gewerbevereinen, oder constituirt sich der Verein, wo es an letzteren bisher fehlte, zugleich als volkswirthschaftlicher und Gewerbeverein, was sehr anzurathen ist, da ja die Aufgaben und Tendenzen beider sich gegenseitig ergänzen und fördern: so steht ein höchst folgenreiches Eingreifen in die localen gewerblichen Zustände in Aussicht. Den belehrenden Vorträgen über Volkswirthschaft und Gewerbskunde etc. schließen sich Bücher, Zeichnungen, Modelle, Zeitschriften an, welche zur Benutzung der Mitglieder gehalten werden. Da kann, sobald die Theilnahme allgemeiner wird, an die Fortbildung der jungen Gewerbtreibenden, an eine Sonntagsschule gedacht werden, an Gründung von Vorschußbanken für die Mitglieder und dergleichen mehr. Endlich gehen von solchen Vereinen, zur Erweckung eines regeren Strebens der Gewerbtreibenden am Orte, sowie zur Bildung des Verkehrs, wohl auch öffentliche Ausstellungen der Gewerbserzeugnisse der Mitglieder zu passenden Zeiten aus, wozu unter andern die bevorstehende Weihnachtszeit eine gute, allen willkommene Gelegenheit bietet. Eine solche Ausstellung wird namentlich von dem hier bereits in der Bildung begriffenen „volkswirthschaftlichen und Gewerbeverein“ in den letzten Wochen vor dem Feste beabsichtigt, und diese thatsächliche Kundgebung von der Wirksamkeit des Vereins hat eine außerordentliche Zahl von Anmeldungen sofort, als sie zur Kenntniß des hiesigen Publicums gelangte, zu Wege gebracht.

Um manchen desfallsigen Wünschen hinsichtlich der speciellen Einrichtung solcher Vereine entgegen zu kommen, bemerke ich, daß ein wohl ziemlich allgemein passendes Statut für die hiesigen „volkswirthschaftlichen und Gewerbevereine“ von mir ausgearbeitet, jedoch noch nicht definitiv festgestellt ist, dessen Uebermittelung ich auf portofreie Anfragen gern übernehme. Wegen der Kosten, welche die Mitgliedschaft verursacht, wird aber deren Beschränkung auf ein möglichst geringes Maß wünschenswerth sein, damit man die unbemittelten Gewerbtreibenden nicht vom Beitritt abhält. Ein vierteljähriger Beitrag sämmtlicher einzelner Mitglieder – von 2½ bis höchstens 5 Neugroschen – wird zur Erreichung der Vereinszwecke hinlänglich sein, und denkt man auch hier, bei der in Aussicht stehenden zahlreichen Betheiligung, für Anschaffung der nöthigen Zeitschriften, Bücher und Utensilien für das Erste damit zur Genüge auszureichen.

Delitzsch, im October 1857.

Schulze-Delitzsch.





Blätter und Blüthen.

Geschichte einer Pariser Nähterin. Ich befand mich vor neun Jahren in Paris und mit mir die sehr befreundete Familie. W., die sich in die Hauptstadt der Moden begeben hatte, um die Ausstattung ihrer liebenswürdigen Tochter Elise zu besorgen. Da waren denn auch eine Menge Stickereien nöthig, zu deren Ausführung große Sorgfalt und Geschicklichkeit gehörte. Nun war die Frau des Portiers eine ausgezeichnete Stickerin. Da sie mich oft gebeten, sie meinen Freunden und Bekannten hierfür zu empfehlen, so unterließ ich nicht, sie den W.’s vorzuschlagen. Nachdem man ihre Arbeiten sich angesehen hatte, wurden der Madame Billot, so hieß die Portierfrau, mehrere Aufträge zu sehr feiner Arbeit übergeben. Die gute Frau ging mit eben so großem Eifer als Vergnügen an’s Werk, und stichelte vom frühen Morgen bis spät in die Nacht. Aber bei aller Thätigkeit war sie doch nicht im Stande, ihre Arbeit zu rechter Zeit zu beendigen. Sie bat daher, man möchte ihr erlauben, den Rest der Arbeit einer jungen Person zu übergeben, für welche sie sich interessire. Als ich daher ausging und die Thür der Madame Billot passirte, trat diese zu mir, und zeigte mir einige bewundernswürdig gearbeitete Stickereien.

„Was ist das, Madame Billot,“ rief ich; „diese Arbeit ist beinahe schöner, als die Ihrige.“

„Ganz recht, Madame,“ erwiderte diese. „Darum meine ich, daß die Damen, die noch so viele Stickereien wünschen, wohl geneigt sein dürften, diese der jungen Demoiselle anzuvertrauen, welche diese Stickereien gefertigt hat. Sie ist eine Waise und so hübsch und wohl erzogen, ein Engel, Madame, ein wahrer Engel, bei Gott!“

„Und wie heißt dieser Engel?“ fragte ich.

„Man nennt sie Mademoiselle Lucie, und sie wohnt gerade gegenüber. Es ist sehr schmerzlich gewesen, daß ich ihr nicht einmal im siebenten Stock ein Plätzchen geben konnte; aber es ist keines leer seit langer Zeit. Ihr Vater war ein Maler, und beleidigte seine Familie, indem er die Farm verließ (dort in der Normandie, ein ganz allerliebstes Plätzchen, hörte ich), um hier seine Kunst auszuüben. Und damit die Sachen noch schlimmer würden, heirathete er ein gutes, hübsches junges Weib, ebenfalls eine Waise, ohne einen Sou. Dieses starb nach wenigen Jahren, und hinterließ ihm eine Tochter, eine liebe, süße kleine Blume, drei Jahre alt. Der

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 651. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_651.jpg&oldid=- (Version vom 16.9.2023)