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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

nicht in das Gewühl der Städte – sie gleichen sich überall, sie haben mit der Natürlichkeit auch ihren Nationalcharakter abgestreift. Ich führe Dich aber auf ein Terrain, das noch ungefurcht vom Pfluge überfeinerter Civilisation in seiner vollsten Naturwüchsigkeit dasteht, frei sich entfaltend mit allen seinen Schwächen und Vorzügen.

Wir sind mitten in Ungarn; eine unabsehbare Ebene, wohl 600 Quadratmeilen umfassend, breitet sich vor unseren Blicken aus. Sie fängt im Heveser Comitate an und erstreckt sich bis gegen Siebenbürgen und die südliche Grenze Ungarns. Ein eigenthümliches Gefühl des Bangens und Ermattens bemächtigt sich unser, wenn wir uns in dieser ungeheueren Fläche umschauen, auf der das Auge vergeblich nach einem Ruhepunkte sucht. Meilen weit, oft Tage lang findet man keine menschliche Wohnung, erblickt man keinen Kirchthurm, dessen Geläute mit tröstlichen Klängen von menschlicher Nähe zu uns spräche. – Oft fährt man Meilen weit auf einem schmalen hohen Damme mitten durch Moräste und Sümpfe, deren trügerisches Grün einen bodenlosen geheimnißvollen Abgrund deckt. Und nun werden wir noch von einem Gewitter überfallen. Die dunklen schweren Wolken scheinen auf der Erde zu liegen; man glaubt, von ihnen berührt und erdrückt zu werden. Die Blitze zucken in unheimlicher Nähe links und rechts hernieder und über die dunkle Fläche hinstreichend heult der Wind sein schaurig Lied. Das hohe Schilf flüstert und nickt und winkt mit seinen federbuschförmigen Spitzen. Zu alledem gesellt sich der tröstliche Gedanke, daß, wenn man den Weg verfehlt, Roß und Wagen sammt Inhalt in den Sumpf stürzen, aus dessen schlammiger Umarmung kein Entrinnen möglich ist.

Endlich, endlich entdeckt das sehnsuchtsvoll suchende Auge in weiter Ferne ein Licht. Aber noch lange dauert die Fahrt, ehe der ersehnte Hafen erreicht ist. Da schlägt Hundegebell an unser lauschend Ohr, die müden Rosse beschleunigen ihren Schritt und bald hält der Wagen vor einem Gebäude, aus dessen kleinen Fenstern der Lichtschimmer hinaus in die öde Haide fällt, wie ein Hoffnungsstrahl in trübe Leidensnacht.

Ein langer Blitz beleuchtet jetzt grell die Scene. – Wir sehen vor uns ein niedriges Haus, an das sich ein Stall und ein halbverfallener Schuppen anlehnen, unter dem mehrere gesattelte Pferde scharrend und schnaubend stehen. Die Thür öffnet sich und ein Jude, mit schmutziger Laterne vorsichtig herausleuchtend, ladet uns mit tiefen Bücklingen zum Absteigen ein und verheißt uns ein vortreffliches Nachtquartier.

Folgen wir dem kleinen Itzig in das Innere des Hauses. Nachdem wir die Hausflur durchschritten, treten wir in eine von Lampenqualm und Tabakrauch erfüllte große Stube. In einer Ecke an einem langen, mit Bänken umgebenen Tische sehen wir eine sonderbare Gesellschaft versammelt. Es sind kräftige, naturwüchsige, gedrungene Gestalten mit blitzenden Augen und intelligenten, scharfgezeichneten Gesichtern. Ein kleines rundes Hütchen ist keck auf eine Fülle glänzend schwarzer Haare gedrückt. Fabelhaft weite weiße Leinwandhosen (Gatya), ein Hemd, dessen offene breite Aermel, in gefälliger Drapirung zurückfallend, die kräftigen muskulösen Arme sehen lassen, eine kurze Weste von blauem Tuch mit unzähligen glänzenden Knöpfen verziert und ein über die Schulter malerisch geworfener Spencer (mente), mit Schnüren und Knöpfen reichlich besetzt, bilden die Kleidung dieser Männer. Gespornte Stiefeln und Pistolen vollenden das Ganze.

Wer sind diese unheimlichen Gesellen, die so ernst beim Weine dasitzen, die den eintretenden Fremden kaum eines Blickes würdigen? Was ist das für ein Haus? Ueberhaupt, was für eine Gegend ist’s, in der wir uns befinden? – Diese drei Fragen sind nicht schwer zu lösen für den Eingebornen, dem Fremden mögen sie gleich schaurigen Gespenstern erscheinen. Wir sind auf einer Pußta, jene finstern Gesellen sind Betyárs, das Haus ist eine Csárda.

Was aber ist eine Pußta? Nehmen wir ein Wörterbuch zur Hand, so finden wir dies Wort durch Wüste, Haide, Steppe übersetzt und sind nicht um ein Haar breit der Aufklärung darüber nähergerückt, denn keine dieser drei Benennungen bezeichnet das Eigenthümliche der Pußta. Man darf sich mit diesem Worte durchaus nicht eine gänzlich unbewohnte öde Haide oder gar eine unfruchtbare Wüste vorstellen, sondern man bezeichnet in Ungarn damit einen Strich Landes, der innerhalb seiner Grenzen kein Dorf hat und mehrere hundert oder auch viele tausend Joch[1] groß ist. Die Anzahl dieser Pußten ist bedeutend, sie wird auf 3000 angegeben, die theils im Besitze Einzelner sind, theils ganzen Gemeinden zugehören.

Um einen Begriff von ihrer Ausdehnung zu geben, wollen wir nur die Pußta Hortobagy anführen, deren Flächeninhalt 55,000 Joch beträgt und deren fettes Weideland außer unzähligen Schafen und Pferden 30,000 Stück Hornvieh reichlich ernährt. Die Pußta sammt allen darauf weidenden Thieren gehört der Stadt Debreczin, deren Gebiet zehn Meilen lang und zwei breit ist.

Jetzt aber zurück zu unserm Wirth. – Es ist Morgen. Nach jener ermüdenden Reise in der vergangenen schaurigen Gewitternacht haben wir recht gut in der Csárda geschlafen. Csárda, so heißt das einsame Wirthshaus, welches inmitten dieser ungeheueren Ebene gleich einem Verbannten dasteht. Das Rohrdach ist mit Moos und Schlingpflanzen überwuchert; die Wände sind von gestampftem Lehm und haben kleine trübe Fenster; auf dem Giebel steht auf einem Beine ein philosophischer Storch in seinem seit Jahren immer wieder aufgesuchten Neste. Neben der Thüre liegen zwei große zottige Wolfshunde, die nach der durchwachten Nacht in behaglicher Ruhe sich dem Schlafe überlassen. Vor dem Hause erblicken wir einen Brunnen, dessen Stange riesengroß erscheint in der weiten, durch nichts unterbrochenen Fläche.

Wir reisen weiter durch die endlos scheinenden Sümpfe, die oft mit zwei Klaftern hohem schlanken Rohr dicht bedeckt sind, in dessen schützendem Dickicht Tausende von Wasservögeln nisten und ihr verschiedenartiges Geschrei hören lassen. Hin und wieder, wo sich das Wasser zu Teichen angesammelt, schreiten ernst und majestätischen Schrittes prächtige Reiher auf und ab, auf einen neugierigen Frosch lauernd, der seine Nase unvorsichtig aus dem Wasser steckt. In der Entfernung sehen wir aus dem zerbrochenen Schilfrohr sonderbare dunkle Gegenstände hervorragen, die wir weder für Vögel, noch für andere Thiere zu halten geneigt sind. Wir kommen näher und entdecken eine im Moraste liegende Büffelheerde, deren zottige Köpfe mit krummen schwarzen Hörnern und wildblickenden Augen aus dem Schlamme unbeweglich hervorragen. Sie bringen in dieser beschaulichen Ruhe den größten Theil des Tages zu, um sich gegen Hitze und Fliegen zu schützen.

Jetzt fliegt auf leichtfüßigem Rosse ein Reiter an uns vorüber – wir erkennen in ihm einen jener ernsten Gesellen aus der Csárda.

Der Betyár ist der Pußta echtester Sohn. Sein ganzes Hab’ und Gut sind sein flüchtiges Roß und seine Waffen. Seine Begriffe über das Eigenthumsrecht sind ungemein verwirrt; vor seinem geübten Blicke bleibt der fetteste Hammel der Heerde, das beste Roß zwischen Hunderten nicht verborgen und geht bei nächster Gelegenheit in seinen Besitz über. In selteneren Fällen greift er zu Straßenraub und Mord. Die Pußta ist seine Wohnung, sie bietet ihm Alles, wonach seine Seele begehrt.

Oft erscheint ein solcher Betyár in dem nächsten Dorfe bei einer Hochzeit und wird immer gern oder ungern freundlich empfangen und gut bewirthet. Die Dirnen tanzen gern mit dem schmucken Burschen, der mit klirrenden Sporen den Takt zum lustigen Tanze schlägt. Man hütet sich, den ungerufenen Gast zu beleidigen oder der Obrigkeit anzuzeigen, denn man weiß, daß seine Cameraden grausame Rache üben würden, die am gewöhnlichsten in Brandlegung besteht. Seit dem letzten Jahrzehnt haben sich diese gefährlichen Bewohner der Pußta auffallend vermehrt und Raub und Mord sind nicht mehr so ungewöhnlich. Die Ursache davon ist, daß nach der Revolution manche Individuen, selbst aus den civilisirteren Ständen, Schutz in der Einsamkeit der Pußta suchten und die Verderbtheit der Städte in die wilde Natur mitbrachten.

Diejenigen Theile der Pußta, welche wegen ihres morastigen, Ueberschwemmungen sehr ausgesetzten Bodens zum Ackerbau nicht benutzt werden können, liefern die fetten üppigen Weiden für Pferde, Schafe und Hornvieh. Dort, wo die Rohrfelder und tiefen Sümpfe aufhören, finden wir schon ein regeres Leben. Da steht, umgeben von seiner zahlreichen feinwolligen Heerde, der Schäfer; seine großen zottigen Hunde, die manchen Kampf mit den kleinen, ungemein wilden und raubgierigen Rohrwölfen muthig bestehen, sind die treuen Genossen seiner Einsamkeit.

Weiterhin in ernstem Sinnen an seinen Stab gelehnt steht der Ochsenhirt (Gulyás), um ihn graset die schneeweiße Rinderheerde (Gulya). Wie ganz anders sind doch diese Thiere im Vergleich mit denen, die im Stalle gezogen wurden! Der Körper ist

  1. Ein Joch Feld beträgt 1600 Quadrat-Klaftern.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_006.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)