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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

sonst müßten die Beine mit der Brust abwechseln, unbedeckt zu frieren. Außerdem hatte man die gebräuchliche Decke nur annähernd durch ein noch beigegebenes Linnentuch zu ersetzen gesucht. Ich kam mir in dieser Hülle wie ein eingewickelter Leichnam vor, dem man ein großes Kopfkissen auf den Bauch gelegt hat.

Dem düstern Regenwetter folgte ein schöner, sonniger Tag, und so ging ich denn bei Zeiten mit einem Stück Brod in der Tasche fort, um neue Ausflüge zu machen. Wieder schlug ich mich auf dem ersten besten Pfad in den Wald und durch diesen in die Höhe. Hatte der graue Tag großartige, erste Totaleindrücke gegeben, so brachte der heitere Sonnenschein bezaubernde, freudig erregende und doch nicht minder großartige Wirkungen auf diesem herrlichen Stück Erde hervor. Im feinsten duftigen Ton lagen die gegipfelten Bergeshäupter über dem nicht minder duftigen Walde, der nach dem Thale zu, wo das Laubholz mehr vorwiegend war, in herbstlich goldenem Schmucke dalag. Weiße Nebelstreifen zogen hier und da aus den Thälern empor, um als leichte Wölkchen die in rosigem Lichte strahlenden Höhenzüge zu umschweben, wo sie oft lange, wie gefesselt vom spielenden Sonnenglanz, der auch sie purpurn überhauchte, hafteten, bis sie, wie im Lichte zerfließend, dem Auge entschwanden, oder am blauen Aether dahin eilten und sich nach und nach den Blicken entzogen. Und wie durchschoß und durchwob die Sonne den stillen Wald! Hier streifte das Licht anmuthig schimmernd über die Wände eines der haushohen Felsblöcke, wie sie in Menge, größer oder kleiner, stellenweise den Wald bedecken, Zeugen von mächtigen Ereignissen, welche sie hinabschleuderten in die Tiefe, wo sie seitdem, überwuchert von Moos, zum Theil mächtige, sie mit den Wurzeln umklammernde Bäume auf sich tragend, einer neuen Umwälzung entgegen zu harren scheinen. Dort schlüpfte und drängte sich gleichsam das allbelebende leuchtende Element zwischen Stämmen und Felsblöcken durch, jetzt an einem mächtigen Ahornstamm emporklimmend, jetzt über die am Boden liegenden, modernden Baumriesen dahin gleitend; oder es sprang blinkend über den Gießbach weg, bis es sich an einer Matte ausbreitete und Alles mit goldigem Schein umschloß. Welcher Reiz liegt aber in einer solchen Matte oder Voralm, wie man sie heißt! Einzelne große Ahornbäume oder Buchen bilden hier wohl Gruppen, an denen gewöhnlich ein Muttergottesbild den andächtigen Jäger oder Senner fesselt. Und kommt man nun vollends in die Höhe, so daß man meistens noch unter sich zu blicken hat, dann fühlt man erst, was es bedeutet, in freier Bergluft zu stehen – es weht Dir die kleinlichen Sorgen und Erinnerungen aus der Brust. Ja, kleinlich erscheint Dir so Vieles, was Dich im schweren Odem der Städte bedrückte! Wild starren hier oben die letzten mächtigen Tannen empor oder liegen, vom Sturme gewaltsam gebrochen oder in sich selbst sterbend zusammengesunken, unter ihren theils noch trotzenden, grünenden, theils bereits ebenfalls schon abgestorbenen, aber noch stehenden, mit wallendem Baumbart geschmückten Brüdern. Noch weiter hinan streift das Auge über dunkelsaftiggrünes Laatschengebüsch, bis über diesem die hellen, leuchtenden Zacken des Gebirges sich emporrecken. Mit feierlich erhobenem Gefühl stand ich an solchen Orten und schaute zu den hellglänzenden, silbernen Wolken hinauf, wie sie emportauchten über jene Felsengipfel, oder sah in die blaue duftige Tiefe unter mir, wo der Blick von Wipfel zu Wipfel der ehrwürdigen Tannen hernieder stieg, bis er endlich auf dem in Massen zusammengehenden Walde Ruhe fand und dem Ohr das Anrecht überließ, weiter vorzudringen und dem tobenden Gießbach, den das Auge nicht mehr erreichte, zu lauschen. Was aber die Sinne nicht mehr erfassen könnten, das zaubert die Phantasie herbei. Sie folgt den unsichtbaren Wellen, um sich mit ihnen in die Gebirgsseeen zu verlieren und all die bedrängenden Erscheinungen in harmonischer Ruhe zu lösen und auszugleichen.

Noch erinnere ich mich lebhaft des unvergleichlich schönen Morgens, als ich in solchen Empfindungen schwelgte, – und als der Schrei eines Hirsches, scheinbar ganz nah, mich freudig aufschreckte. Sofort beschloß ich, mich an diesen Hirsch heranzupirschen. Als er wieder schrie, folgte ich, nachdem ich den Wind wohl beobachtet hatte, der Richtung, wo ich ihn vermuthete. Freilich war das nicht so leicht, als ich im ersten Augenblicke geglaubt hatte, da ich mich bei völliger Unkenntniß des Terrains auf Umgehung mächtiger, mir im Wege liegender Gebirgseinschnitte nicht einlassen konnte, sondern möglichst gerade auf das Ziel lossteuerte. Der öfter wiederkehrende Schrei des Brünstigen ließ mich nicht leicht irre werden und leidenschaftlich stieg, kletterte und rutschte ich immer weiter. Bald mußte ich wild durcheinander geworfene Stämme überklettern, die, zum Theil morsch oder schon verfault, das Darüberhinschreiten unsicher machten; bald ging es an Hängen hinauf und hinab, über mächtige Blöcke oder Geröll weg. Lauschend stand ich dann oft still, wenn ich einen Stein losgetreten hatte, der vollends hinabsprang in die Tiefe. Doch wieder schrie der Hirsch, da hier im Gebirge ein solches Geräusch aus verschiedenen Ursachen häufig vorkommt und das Wild nicht stört. Endlich, als ich einen tiefen Einschnitt mühsam überklettert und den Hirsch noch einmal gehört hatte, kam ich auf ein etwas tiefer liegendes, von alten Tannen umsäumtes Wiesenplätzchen. Es war ein Brunftplatz, was mir mehrere Suhlen und vom Schlagen des Hirsches weißgeschälte Baumstämmchen, so wie der durch zahlreiche Fährten zertretene Boden und endlich der Brunftgeruch des Hirsches bewiesen. Nicht lange vorher mußte der Hirsch noch hier gestanden haben, das sah man an dem aus der Suhle umhergespritzten Schlamme, der an den in der Nähe stehenden Gegenständen haftete und noch ganz frisch war. Lange Zeit stand ich hier lauschend, bis an die Knöchel im Koth und Wasser, und zwar in meinen kalbledernen Stiefeln, deren Sohlen ohnehin in ein höchst widerspenstiges Verhältniß zum Oberleder gerathen waren, während dieses in schmerzlicher Zerrissenheit über solche abnorme Zustände und Zumuthungen sich selbst aufzugeben schien. Glücklicher Weise besaß ich in meiner Reisetasche noch ein Brüderpaar, welches ich bisher von dergleichen ungewohnten Strapatzen fern gehalten hatte.

Der Hirsch hatte inzwischen aufgehört zu schreien, und schon glaubte ich, ein Stück Wild vom Trupp, den er jedenfalls bei sich hatte, hätte mich wahrgenommen, als ich, nicht weit über mir, den machtvollen Ruf wieder vernahm. Ich hörte mein Herz schlagen und rang buchstäblich nach Athem, so regte es mich auf, daß ich bald den ersten Alpenhirsch sehen sollte. Vorsichtig kletterte ich empor, was anfangs ziemlich leicht und gut von Statten ging. Aber bald erfuhr ich, daß ich mich abermals in der Entfernung getäuscht; ich mußte immer höher und höher und fand nur hier und da, wo der Boden eine weiche Stelle hatte, die Fährte, aus der ich, wie aus dem Schrei, auf den Hirsch als einen starken schließen konnte. Wieder hörte ich ihn, und nun kam es darauf an, mich auf eine teufelsmäßig steile Höhe hinanzubringen, wenn ich mit Erfolg, das heißt, unbemerkt an mein Ziel gelangen wollte. Innerhalb meines Gesichtskreises stand wenigstens kein Wild, und ich mußte daher aller Wahrscheinlichkeit nach unbemerkt bleiben, so lange ich mich von der Höhe hielt. Gelang mir’s aber, diese zu ersteigen, dann durfte ich fast mit Bestimmtheit darauf rechnen, über die andere Seite hinab den Burschen stehen zu sehen. Wohlan denn, hinauf – ich hatte keine andere Wahl! Laatschengebüsche, die hier schon vorherrschend waren, benutzte ich als natürliche Strickleitern, mit deren Hülfe ich von Plateau zu Plateau emporstieg. Oben standen ein paar verknorrte Fichten, deren struppige Zweige bis auf die Wurzeln herunterreichten. Nicht ohne Anstrengung näherte ich mich den Schutz versprechenden Wächtern dieser Zinne, bis ich die gewaltige Handhabe einer ihrer ausbiegenden Wurzeln erfassen und mich hinaufschwingen konnte. Hier barg ich mich, auf dem Bauche liegend, unter dem Gezweig. Vorsichtig hob ich den Kopf, die mir gegenüberliegende Hänge sorgfältig mit dem Auge absuchend. Da half mir der Hirsch selbst, ihn zu finden, indem er in einer Entfernung von nicht mehr als vierzig Schritten, etwas unter mir, zu schreien anfing. Er stand an einem Laatschengebüsch auf einer kleinen Grasfläche, von der aus mächtiges Geröll sich in die Tiefe erstreckte. Ueber dem Gebüsch trotzten die kahlen schneidigen Rücken einen Gebirgsjoches empor. Ein Trupp, so viel ich bemerken konnte, von zwei alten Thieren mit Kälbchen und einem Schmalthiere war der Serail des Alleinherrschers. Vollkommen außer Wind, lag ich in meinem Versteck so sicher, daß ich mit der wünschenswerthesten Muße das Treiben dieser Thiere beobachten konnte.

(Schluß folgt.)



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 51. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_051.jpg&oldid=- (Version vom 24.1.2023)