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verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Leser nach einzelnen kleinen Skizzen vielleicht ein ungefähres Bild, ein à-peu-près von Paris selber zusammenstellen können.

Wir greifen nur so hinein in’s volle Menschenleben und bieten dem Leser

1. Sonderbare Pariser Existenzen.

Vor einigen Jahren ging ich an der Seite einer eben erst in Paris angekommenen deutschen Dame auf dem Boulevard de la Madeleine auf und ab. Aus dem Auslegekasten eines Modegewölbes in einer der Seitenstraßen glänzte ihr ein schöner mit Sammt und Federn aufgeputzter Hut entgegen. Magnetisch angezogen, näherte sie sich dem Laden. Ueber der Thüre stand die einfache Inschrift: Modes; auf der Glasscheibe selbst in bronzenen Lettern der Name Adeline. Der Hut war auch in der Nähe schön und meine Deutsche, noch nicht gewohnt, den Verführungen der Pariser Auslegekasten zu widerstehen, beschloß sofort, ihn zu kaufen, und wir traten ein.

Im Hintergrunde des sehr einfachen Ladens, in welchem kaum fünf oder sechs Hüte und einiger Kopfputz zu sehen waren, arbeiteten drei junge Mädchen; neben ihnen saß eine junge Frau, die sofort aufstand, uns entgegen kam und sich als Besitzerin des Geschäfts zu erkennen gab. Der Handel begann, aber meine Deutsche sowohl als ich selbst hatten über die Schönheit und Anmuth der Madame Adeline bald den Hut selbst vergessen. Sie sprach ein so schönes Französisch, sie hatte in ihrem Benehmen eine so edle und bescheidene Zurückhaltung und ihr ganzes Wesen war, ohne Pedanterie, so gemessen, daß man nach wenigen Minuten überzeugt war, es hier mit einer Frau zu thun zu haben, die, wenn ihr nicht durch Erziehung eine edle Bildung angeeignet worden, sie dieselbe angeboren und als freie Gabe der Natur besitze. Sie fühlte bald heraus, wie sehr sie ihrer Clientin, der Deutschen, gefallen, und wie sehr diese wünschte, sich mit ihr in ein längeres Gespräch einzulassen, und auf das Ungezwungenste kam sie diesem Wunsche entgegen. Bald saßen wir plaudernd neben einander. Madame Adeline wußte wenig von Paris; sie lebte ihrem Geschäfte und des Abends zu Hause, auf ihrer stillen Stube mit ihrem lieben Kinde, doch wußte sie manche treffende Bemerkung über Pariser Leben und Gewohnheiten in’s Gespräch einzustreuen. Meine Deutsche war entzückt. Absichtlich tadelte sie etwas an dem gekauften Hut, um ihn verändern zu lassen und wieder zurückkommen zu können. Als wir gingen, öffnete uns Madame Adeline selbst die Thüre, und sagte uns mit der graciösesten Kopfbewegung Adieu!

„Diese Kopfbewegung, dieses Nicken,“ sagte die Deutsche, „würde ihr eine deutsche Prinzessin mit einer Million abkaufen. Mein Gott, welche Grazie, welche Liebenswürdigkeit! Das findet man doch nur bei einer Französin! Und dies ist um so erstaunlicher, als sie nicht in der Welt lebt, sondern nur der Arbeit und auf ihrer Stube!“

„Wer weiß, wer kann wissen!“ warf ich in den Enthusiasmus der Landsmännin ein – „hier in Paris! – Ah, Madame, diese kleine, höchstens fünfundzwanzigjährige Frau hat vielleicht mehr gelebt und erlebt, als wir beide zusammengenommen.“

„Aber sie sagt ja –“

„Ist sie gezwungen, uns die Wahrheit zu sagen? Sind wir ihre Vertrauten?“

Meine Deutsche war über meinen Skepticismus empört und noch empörter, als ich hinzufügte, daß ich Pariser Putzmacherinnen nicht traue. Die Unschuld, die Reinheit selbst sprach ja neben allem Geiste auf’s Deutlichste aus den Augen der Madame Adeline.

So empört war die Deutsche gegen mich, daß sie mich nicht mehr mitnahm, als sie das nächste Mal zu Madame Adeline ging, und nachdem sie dieselbe mehrere Male besucht, versicherte sie mich, daß ich nicht würdig sei, ihre nähere Bekanntschaft zu machen. Sie sei ein Engel. Die Deutsche kannte sie nun genau; sie hatte sie auch in ihrer Häuslichkeit, mit ihrem Kinde, bei einer Tasse Thee gesehen. Madame Adeline heiße eigentlich Madame Adeline Raymond und sei die Frau eines Capitains de long cours, der jetzt mit seinem Schiffe, das den Rothschilds gehöre, in Rio Janeiro sei.

Ich lachte. „Rothschilds haben keine Schiffe.“ Die Deutsche behauptete, wenn es Madame Raymond sage, so sei es wahr. Ich erkundigte mich und erfuhr zu meiner Beschämung, daß die Rothschilds in der That große Rhederei treiben.

Von dem Momente an waren meine Einreden noch wirkungsloser als vorher. Zum Glück verließ die Deutsche bald Paris, nicht ohne von Madame Adeline Raymond einige zarte Verse in ihrem Stammbuch über den Rhein zu nehmen, und ich dachte nur an die schöne und liebenswürdige Putzmacherin, wenn ich zufällig durch ihre Straße ging.

Eines Tages – ungefähr acht Monate nach meiner ersten Bekanntschaft mit Madame Adeline – stieg ich mit einem Professor an einem der Collegien diesseits der Seine, einem jungen Manne, in der Rue de Turin seine fünf Treppen hinauf, um auf seinem ganz Paris beherrschenden Balkon eine gemüthliche Abendcigarre zu rauchen. Auf der dritten Treppe begegneten wir einer Dame, die abwärts stieg.

„Guten Abend, Madame!“ rief mein Professor und zog den Hut mit großer Ehrerbietung.

Ich sah näher, erkannte Madame Adeline und grüßte ebenfalls.

„Wie, Sie kennen einander?“ rief der Professor erstaunt, fragte nach dem Kinde der Madame und wir gingen weiter.

Ich erkundigte mich und erfuhr, daß Madame Adeline Raymond und der Professor Nachbarn waren. Der Professor kannte sie seit vielen Jahren; denn er wohnte mit ihr in demselben Hause. Er konnte sie nicht genug rühmen und nicht genug davon erzählen, wie sehr sie im Hause geachtet war wegen ihres stillen, bescheidenen und überhaupt ehrenwerthen Wesens. Sie sei die Frau eines Schiffscapitains, der sie aber vernachlässige und schon lange nichts habe von sich hören lassen. Da sei sie denn gezwungen gewesen, ein Geschäft, ein armes, kleines Modegeschäft zu eröffnen nur um sich und ihr kleines Töchterchen anständig zu ernähren.

„Mein Gott,“ rief der Professor aus, „wenn diese Frau mit ihrer Schönheit, ihrer Grazie so thun wollte, wie viele andere, sie könnte im Ueberfluß leben, in Freuden und Genüssen jeglicher Art; aber nein, sie zieht ein stilles, anständiges Leben vor; – was sage ich? – ein mühsames, arbeitsames Leben voll Ermüdung und Entbehrungen. Ganze Nächte kehrt sie nicht nach Hause zurück; da arbeitet sie in ihrem Magazin bis Tagesanbruch. Sie sieht oft arg ermüdet aus, die arme Frau. Auch nehmen alle Nachbarn den lebhaftesten Antheil an ihrem Schicksal; jeder sucht ihr zu helfen, ihr irgendwie unter die Arme zu greifen oder gefällig zu sein. Sehen Sie mich an,“ fuhr der Professor fort, „wie viel ich auch zu thun habe, steige ich doch jeden Tag für eine oder zwei Stunden zu ihr hinab, um ihr kleines Töchterlein gratis zu unterrichten, und bei Gott, dabei bin ich so uneigennützig als möglich, denn ich bekomme Madame Raymond, die in ihrem Geschäft ist, fast nie oder äußerst selten zu sehen.“

Im Gedanken bat ich Madame Raymond und die deutsche Frau, ihre Freundin, um Verzeihung für den Verdacht, mit dem ich sie einmal, freilich auch nur in meinen Gedanken, beleidigt hatte. Ein vieljähriger Nachbar und erfahrener Pariser legte ja ein solches Zeugniß für sie ab.

Ungefähr zwei Jahre später – ich hatte Adeline und selbst den Professor ganz aus den Augen verloren – ging in einem mir intim befreundeten Hause ein kleines Trauerspiel vor. Die Tochter des Hauses liebt einen jungen Mann aus der Normandie, den Sohn eines der großen Fabrikanten in Elboeuf, der, obzwar er seine Studien längst vollendet hatte, wieder für einige Zeit nach Paris gekommen war, um die Vorlesungen des berühmten Chemikers Orsila zu hören, da ihm dessen Wissenschaft in seinem Geschäfte nothwendig geworden war. Alter, Vermögen, Stand, Bildung, Familienverhältnisse – Alles stimmt vortrefflich zusammen und die jungen Leute, Marie und Alphonse, verlobten sich und waren glücklich. Alphonse sollte nur noch die neu aufgenommenen Studien vollenden, und dann die glückliche und schöne Braut heimführen. Aber nach und nach wurden seine Besuche seltener; wenn er, oft durch mehrere Tage vergebens erwartet, endlich doch zum Thee kam, sah man ihm die Ungeduld im ganzen Gesichte an, und er benutzte die erste beste Gelegenheit, um sich unter irgend einem Vorwande zu entfernen. Er war gegen seine Braut offenbar gleichgültig geworden, er war zerstreut und oft düster und mürrisch. Die arme Marie weinte oft lange Nächte hindurch. Die Mutter war die erste, die auf den Gedanken kam, daß er irgend einer Sirene in’s Netz gefallen, und ich, als Freund des Hauses, bekam den unangenehmen Auftrag, „de tirer l’affaire au clair“, über die Sache Aufklärung zu verschaffen. Ich suchte anfangs so loyal als möglich zu verfahren, und verhörte den jungen Mann; aber er war ein verstockter Sünder, und ich konnte kein Bekenntniß aus ihm heraus verhören.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1859, Seite 142. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_142.jpg&oldid=- (Version vom 8.3.2023)