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verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

„Ehrlos? Eine Diebin? Ist das wahr?“ fragte er nochmals mit furchtbarem Ausdrucke. „Antworte mir!“

Sie antwortete nicht. War dies nicht eine Antwort? Aber es genügte ihm nicht, seine Hand legte sich schwer auf ihre zarten Schultern. Er rüttelte sie.

„Wie bist Du dazu gekommen? Sprich – rede! Wie bist Du zu diesem fürchterlichen Vergehen gekommen – sprich, um Gotteswillen, sprich!“

„Ich kann es nicht lassen,“ drang es wie ein Hauch aus Frau Olga’s Munde, aber für ihren Gatten war es ein niederschmetternder Donner.

„Du kannst – allmächtiger Gott – Du kannst es nicht lassen! Also ein tiefwurzelndes Gift, vielleicht eine Erbsünde! – Allmächtiger, gnädiger Gott, meine Kinder – meine Kinder!“

Der starke Mann stürzte überwältigt, wie zerbrochen auf einen Sessel nieder. Eine Todtenstille herrschte im Zimmer. Als er wieder aufsah, war Frau Olga verschwunden. Er hatte sie nicht gehen sehen und nicht gehen hören. Ein kalter Schauer überlief ihn und jetzt plötzlich verstand er die sonderbare Angst seiner Schwiegermutter vor ihrer Verheirathung, ihre sonderbar bedenklichen Einwendungen. Wilde Bilder erhoben sich in seiner Seele. Tod – Verbannung – unabsehbares Elend – herzzerreißende Trauer über angeborene Laster.

„Meine Kinder!“ schrie die Verzweiflung in ihm.

Dem finstersten Brüten hingegeben, zogen eine Menge kleiner Erfahrungen, dunkel und mystisch, wie die Bilder einer Laterne magika, an ihm vorüber und sie waren, trotz ihrer nebelhaften Existenz, hinreichend, um die vorliegenden Thatsachen zu bekräftigen. Was ihm zu thun oblag, wußte er schon. Aber seine Kinder – seine Kinder! Trugen sie die Spuren des Erbübels schon in sich? O, wer ihm hier Beweise hätte liefern können! Sein Auge richtete sich zum ersten Male hülfeflehend zum Himmel und seine leichtsinnigen, blasphemirenden Philosophien wurden durch die Offenbarung einer höheren Gerechtigkeit, die ihn zu strafen schien, vollständig erdrückt.

„Nur meine Kinder mag mir Gott lassen, nur meine Kinder!“ rief er, laut aufschreiend vor Jammer, als er lange, lange Zeit klagelos und stumm verharrt hatte.

Er erhob sich, um in sein Zimmer zu gehen. Dort empfing ihn lautes kindliches Gelächter. Die Kleinen waren mit ihren Spielsachen bei ihm eingedrungen und hatten ihn gesucht. Meta thronte auf seinem Arbeitssessel, ehrbar die Puppe im Arme, Leopold saß auf der Erde und baute Schlösser von Holzklötzchen.

„Führe sie in Versuchung!“ rief eine Stimme in ihm, als er von dem süßen Lächeln des kleinen schmeichelnden Mädchens begrüßt wurde. „Prüfe sie sogleich und bestehen sie nicht, so reiße sie gewaltsam aus Deinem Herzen, wie ein Gift, das Deinen Lebensfrieden zu zernagen droht. Fort mit ihnen, auf ewig fort mit ihnen, wenn sie mit der Muttermilch das Böse eingesogen haben.“

Zitternd vor innerer Aufregung öffnete er ein Schränkchen, worin er kleine Näschereien für seine Lieblinge aufzubewahren pflegte. Aufjauchzend in Lust, reckte Meta das Köpfchen empor, als sie dies sah, und Leopold erhob sich schwerfällig vom Boden, um mit begierig blitzenden Augen näher zu treten.

Zitternd legte der Vater zwei Stücke Marzipan, ein selten erlaubter Leckerbissen für die Kleinen, auf den Tisch und sprach:

„Das möchtet Ihr wohl?“

Die Kinder klatschten jubelnd in die Hände und setzten sich zurecht, um die Gabe zu empfangen und zu verspeisen. Der Vater zerbrach die Stücke und legte sie, wie in unschlüssigem Zaudern, auf ein Papier neben sich. Er zählte aber genau die Stückchen und verließ, ohne ein Wort zu sagen, schnell das Zimmer.

Betrübt schauten die Kleinen ihm nach und Meta postirte sich bei der Näscherei, während der Knabe unter einem tiefen Seufzer sich wieder niederließ zu seiner Spielerei.

Draußen an dem Schlüsselloche lauschte der Vater. Sein Herz schlug und sein Athem stockte. Als sein Knabe heroisch jeder Versuchung aus dem Wege ging, indem er sich ernstlich beschäftigte, da zitterte ein Freudenlaut von seinen Lippen, aber Meta? Meta? Sein Herz schlug noch stärker, denn Meta war sein Liebling, der Frühlingsträume in seine Brust senkte, der weiche Gefühle in ihm weckte, der die edelsten Regungen in ihn verpflanzte. Meta blieb stehen und betrachtete lüstern die Marzipanstückchen.

„Ob der Papa bald wiederkommt?“ fragte sie endlich den Bruder.

„Weiß nicht,“ entgegnete der kleine Herr lakonisch und spitzte sein Mäulchen zu einem unharmonischen Pfeifen.

„Ob wir unser Marzipan nicht essen dürfen?“ fragte sie nach einer Weile wieder.

„Nein, es ist noch nicht unser,“ replicirte der Knabe.

„Ich möcht’s wohl kosten,“ meinte Meta kleinlaut.

„Ich nicht!“ entgegnete Leopold und sah zu der Schwester empor. Er lachte dabei gerade so spöttisch, wie sein Herr Papa zu thun pflegte, wenn er menschlichen Schwächen begegnete.

„O, ich thue es auch nicht,“ erklärte Meta eifrig und trat sogleich mehrere Schritte von dem Tische hinweg. „Weißt Du wohl, was uns Tante Helene gesagt hat, weißt Du?“

„Freilich weiß ich,“ brummte der Knabe. „Naschen ist Sünde, naschen ist stehlen!“

„O, und noch mehr!“ plauderte sie mädchenhaft geschwätzig weiter. „Tante Helene hat uns erzählt, daß sie auch gern genascht habe, daß aber gleich unser Papa es gesehen habe, und unser Papa sähe Alles –“

„Nein, nicht unser Papa,“ corrigirte der Knabe ganz indignirt mit Stentorstimme, „der Vater im Himmel, der Gott heißt, der sähe Alles, der bestrafe und belohne Alles!“

„Ja, der Papa im Himmel,“ gab Meta kleinlaut zu. „Aber unser Papa belohnt auch, Leo; er gibt uns Marzipan, wenn wir nicht naschen, und hat uns lieb, nicht wahr, das hat Tante Helene auch gesagt? Ich nasche lieber nicht, ich fasse gar nichts an, was mir nicht gehört; nein, unser Papa im Himmel sieht ja Alles!“

Jetzt rollten Freudenthränen aus den Augen des Regierungsrathes und er trat, unbekümmert um die nassen Wangen, schnell in das Zimmer zurück, um seinen Sohn und seine Tochter mit nie gefühlten Empfindungen an seine Brust zu pressen. Die Kinder bemerkten sehr wohl die seltsame Stimmung des Vaters, sie sahen die Thränen in seinen Augen und fühlten die gesteigerte Liebe in seinem Kusse, allein ihr Kinderherz vergaß unter dem jetzt erlaubten Schmaußen der Leckerbissen das, was ihnen momentan auffällig gewesen war.

Den leisen Hauch der Verstörung, der seit dieser Stunde durch das ganze Haus lief, den konnte ein Kinderauge freilich nicht bemerken. Es währte aber nur einen Tag und dann brach das mühsam von entschlossener Selbstbeherrschung zusammengehaltene Familiengebäude des Onkel Fabian zusammen. Er hatte viele Wege gemacht, von jedem kam er düsterer nach Hause. Er hatte Conferenzen gehabt, hatte kein Geld geschont, hatte Aerzte zu Rathe gezogen und dabei war das Zimmer der Frau Olga verschlossen worden und sie der Dienerschaft als „krank“ gemeldet.

Als ein neuer Morgen tagte, nahm Herr von Sieveringk seine Kinder an die Hand und ging mit ihnen nach dem Hause der Frau Justizamtmann Starkloff.

Gerüchte verschiedener Art waren ihm schon vorausgelaufen, weshalb die alte Dame ihm mit hochgespannter Erwartung und Helene mit dem Ausdrucke unendlichen Erbarmens entgegentraten.

„Was mag er wollen?“ murmelte Frau Starkloff und ihr Gewissen regte sich. Aber dessen unbeachtet blickte sie ihm unter dem festen Vorsatze, – „mit dem schweren Geschütze ihrer Offenherzigkeit einen Sieg zu erfechten, wenn es ihm beifallen sollte, den Kampf mit seinen widerhakigen Pfeilen des Spottes zu eröffnen,“ sehr muthig in’s Auge.

Helene aber erröthete und erbleichte, als er mit respectvoller Galanterie ihre Hand an seine Lippen führte, und dachte ebenfalls höchst beklommen: „Was mag er wollen?“

Herr Fabian von Sieveringk bat die beiden Damen mit einfachen Worten, seine Kinder auf acht Tage in ihre Obhut zu nehmen, da Familienverhältnisse eine Reise mit seiner Frau nothwendig machten.

Frau Starkloff riß ihre großen, braunen, muthigen Augen weit auf bei diesem Ansinnen, das ihr völlig unerwartet kam.

„Wie kommen wir denn zu der Ehre, mein Herr Regierungsrath?“ fragte sie, als Erwiderung dieser Bitte, und blickte ihm forschend in’s Gesicht, um aus dem Ausdrucke desselben zu errathen, wie viel Spott in diesem Anliegen ruhen möchte. Keine Spur von Humor lag in seinem vollkommen ruhigen Antlitze und die Kunst des Spottens schien vollständig von ihm vergessen worden zu sein.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1859, Seite 150. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_150.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)