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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

No. 15. 1859.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.
Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Das Testament des Verrückten.
Erzählung von J. D. H. Temme.
(Fortsetzung.)

Der Secretair ließ sich das nicht zweimal sagen.

„Halt, Kutscher!“ rief er zum Wagen hinaus.

Der Kutscher hielt. Ich sah eine lange, dunkle Gestalt in einem langen, schwarzen Rocke, wie die katholischen Geistlichen ihn zu tragen pflegen, neben dem Wagen gehen. Der Secretair redete den Mann an. „Guten Abend, Herr Pater.“

„Guten Abend,“ antwortete eine schöne, etwas tiefe männliche Stimme, verwundert, wie es schien, aus einem fremden Reisewagen von einer fremden Stimme angeredet zu werden.

„Sie kennen mich wohl nicht, Herr Pater?“

„Nein,“ antwortete der Pater offen, aber freundlich.

„Ich bin der Secretair Hommel vom Land- und Stadtgerichte, und bin mit dem Herrn Assessor auf dem Wege nach Tiefendorf, um das Testament des alten Lohmann aufzunehmen.“

„Ach so.“

„Sie wissen davon?“ mußte der neugierige kleine Secretair noch fragen.

„Ja.“

„Ah, ah! Und wenn der Herr Pater nun auch nach Tiefendorf wollen –“

„Ich bin auf dem Rückwege dahin.“

„So – wir haben noch Platz im Wagen, so würden Sie uns eine Freude machen, wenn Sie zu uns einstiegen.“

Der Pater besann sich keinen Augenblick. „Das nehme ich ganz gern an,“ sagte er mit derselben Offenheit, mit welcher er vorher dem kleinen Secretair erklärt hatte, daß er ihn nicht kenne.

Ich hatte unterdeß die Gesichtszüge des Mönches betrachtet. Es war nicht so finster, daß ich sie nicht hätte unterscheiden können. Ich sah in ein schön geformtes, kluges, mildes und trotzdem sehr kräftiges Gesicht, auch noch trotz seines Alters. Ich stieg aus dem Wagen und wiederholte die Bitte des Secretairs.

„Ei ja,“ erwiderte er mit offener, zutraulicher Ungenirtheit. „Das Alter und weite Wege im Gebirge machen müde, und da ist ein solch’ freundliches Anerbieten doppelt willkommen. Ich war tief im Gebirge; die Gemeinde ist groß.“

„Aber daß Sie mich nicht mehr kannten, Herr Pater!“ rief der Secretair.

„Ich hatte Sie früher nur flüchtig gesehen, mein lieber Herr Hommel, und flüchtige Eindrücke verwischen sich. Dafür kann der Mensch nicht.“

Er hatte bei seiner Geradheit auch noch einen scharfen Blick, ebenfalls noch trotz seines Alters.

Ich hatte ihm in den Wagen hineingeholfen; er hatte meine Hülfe angenommen, auch meinen Platz im Fond des Wagens, ohne Widerrede, mit dem freundlichen Danke des Mannes von Bildung, der sich der Ehrwürdigkeit seines Alters und seiner Stellung bewußt ist, gegenüber einem jüngeren Manne, der gleichfalls der gebildeten Gesellschaft angehört.

Der Wagen hatte sich wieder in Bewegung gesetzt. In demselben Augenblicke hatte er, ungeachtet der Dunkelheit, die Fremde schon erkannt, die neben ihm saß. Ich hatte seit dem Gespräche mit dem Geistlichem wenig auf sie geachtet. Dennoch war es mir vorgekommen, als wenn unsere Absicht, ihn einsteigen zu lassen, sie beunruhige. Sie hatte ihren Reisehut tiefer in das Gesicht gezogen. Einmal meinte ich sogar, sie mache eine Bewegung, als wenn sie auf der entgegengesetzten Seite des Wagens aussteigen wolle; dann drückte sie sich tiefer in die Ecke. Sie wünschte offenbar, von dem Geistlichen nicht gesehen zu werden; aber sie konnte zu keinem Entschlusse gelangen. Ich wollte schon mißtrauisch gegen sie werden. Allein, so wie der Pater eingestiegen war, bog sie sich entschlossen aus ihrer Ecke vor und wollte sich ihm wahrscheinlich von selbst zu erkennen geben. Es entsprach ihrem entschlossenen, stolzen, für sich einnehmenden Wesen. Der Pater kam ihr aber zuvor; mit seinem scharfen Auge hatte er sie erkannt, bevor sie ihn anreden konnte.

„Marianne, Du hier?“

Er fragte es überrascht, verwundert; ob aber freundlich oder unfreundlich, konnte ich nicht unterscheiden. Sie antwortete ihm:

„Ich bin es, Herr Pater. Ich wollte Sie eben begrüßen und Ihnen sagen, wie ich mich freue, daß Sie noch immer so rüstig sind.“

„Ja, es geht ja noch. Aber woher kommst Du?“

„Aus –“ Sie nannte die Provinzialstadt.“

„Und Du willst zu – zu –?“

Er zögerte, das Wort auszusprechen. Das Mädchen hatte ihn dennoch verstanden.

„Ja, Herr Pater.“

„Jetzt? Heute?“ fragte er, beinahe vorwurfsvoll.

„Ich mußte,“ antwortete sie leise.

„Wir sprechen nachher davon,“ brach er das Gespräch ab.

Auch das Mädchen schwieg. Das Schweigen Beider über diese Angelegenheit benutzte der Secretair Hommel, um seine Fragen anzubringen.

„Ah, ah, Herr Pater, hat hier im Gebirge nicht einmal ein Treffen stattgefunden?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 209. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_209.jpg&oldid=- (Version vom 8.9.2022)