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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Sie setzte ihre Laterne auf die Erde, trat näher an die Thür, faßte mit der einen Hand diese und mit der anderen den im Schlosse steckenden Schlüssel, und wollte so die Thür wieder zudrücken und abschließen. Sie that Alles langsam, schwerfällig, schläfrig. Darum kam sie auch nicht damit zu Stande.

Eine andere weibliche Gestalt, ein behendes, entschlossenes Wesen, kam ihr zuvor. Aus der Maueröffnung, durch die auch wir vorhin gekommen waren, kam sie schnell herangeflogen, mit wenigen Sprüngen war sie oben auf der steinernen Treppe. Als die Andere die Thür zudrücken wollte, stand sie mitten in dieser. Ehe die Andere sich besinnen konnte, war sie neben uns in der Halle. Es war unsere Reisegefährtin, die der Pater Theodorus seine gute Marianne genannt hatte.

„Guten Abend,“ sagte Marianne mit ihrem raschen, entschlossenen Wesen.

Auf einmal kam jene Andere zur Besinnung. Die Todtenmaske belebte sich; die geistlosen Züge bekamen Geist. Aber welch ein Leben war das, welch ein Geist! Tas Gesicht blieb bleich, die Züge veränderten sich nicht; nur die Augen bewegten sich, sie sprühten ein wildes Feuer.

„Was willst Du hier?“ rief sie der Fremden zu. Sie rief es in einem sonderbaren Tone, wie ein eigensinniges, verzogenes, schreiendes Kind von sechs oder sieben Jahren.

Wie ein solches Kind kam sie mir auf einmal überhaupt vor. Ihr Körper hatte die Ausbildung des Alters von fünfundzwanzig Jahren; vielleicht war sie noch älter. Ihr Geist war in der Entwickelung ihres siebenten Jahres stehen geblieben. Die Fremde, Marianne, stand ihr mit Ruhe, aber auch mit einem fest entschlossenen Muthe gegenüber. Welcher Gegensatz, jenes gelblich bleiche, wuthsprühende, kindisch schreiende, in diesem Augenblicke von dem Schreien verzerrte und so doppelt häßliche Gesicht, und dieses klare, ruhige, muthvolle, seine, von der Reise und der augenblicklichen Erregung etwas geröthete und jetzt wirklich schöne Gesicht, mit den dunklen, glanzvollen Augen!

„Was willst Du hier?“ hatte jene dem Mädchen zugeschrieen. „Ich will in dieses Haus,“ antwortete Marianne ruhig. „Zu wem, zu wem?“ „Zu meinem Pflegevater.“ „Du lügst, Du lügst. Du willst nicht zu ihm. Du sollst zu keinem Menschen. Du sollst aus dem Hause. Hinaus, hinaus!“

Sie rief immer in dem weinerlichen, schreienden Tone eines verzogenen, trotzigen, heftigen Kindes, das seinen Willen nicht bekommt. Das Geschrei hallte durch das ganze Haus.

Im Hintergrunde der Halle, dort, wo das häßliche alte Weib verschwunden war, öffnete sich eine Thür. Die Alte erschien darin. Sie blickte rasch umher. Das Geschrei der Tochter schien sie erschreckt zu haben. Auf einmal sah sie die Fremde, Marianne. Das häßliche Gesicht verzerrte sich in entsetzlicher Bosheit. Sie stürzte wie eine Furie näher. Aber mitten in der Halle schien sie sich auf etwas zu besinnen, und hielt ihren Schritt an. Sie sah zweifelhaft auf die Fremde, dann auf mich und den Secretair.

Marianne hatte sich auf unsere Seite gestellt; es konnte aussehen, als wenn sie unter unserem, der Gerichtsbeamten, Schutze stehe, als wenn sie gar mit uns gekommen sei. Die Alte stutzte sichtlich. Die Andere sah es nicht. Sie blieb das schreiende Kind von sieben Jahren. Sie hatte die Alte gesehen, und lief auf sie zu.

„Die Marianne ist hier, Mutter; sie will nicht wieder fort; sie will nicht aus dem Hause. Hilf mir. Sie soll fort, sie soll fort; sie soll nicht zu ihm.“

Sie war also die Tochter der Alten.

Die alte Frau stand zweifelhaft, in sichtbarer Unruhe. Marianne trat auf sie zu, ruhig, muthig, wie sie bisher war.

„Madame Langlet, mein Pflegevater liegt am Sterben. Sie werden mir doch erlauben, daß ich ihn noch einmal sehe.“

Aus den Augen der alten Madame Langlet schoß ein furchtbar wüthender Blick. Aber ein unruhiger Seitenblick auf uns, die Gerichtsbeamten, folgte ihm. Die Frau mäßigte sich.

„Wer hat Dir gesagt, daß er am Sterben liegt?“ fragte sie die Fremde.

„Ich habe es gehört.“

„Und warum bist du hergekommen?“

Das Mädchen besann sich.

„Jetzt, ja,“ antwortete sie dann, aber, wie es mir schien, nicht ohne einen Vorbehalt gegen sich selbst.

Auch die Frau besann sich.

„Du kannst bleiben.“

„Sie soll fort, sie soll fort!“ schrie die Tochter.

Aber die Alte brauchte ihr nur einen einzigen drohenden Blick zuzuwerfen. Sie schwieg, wie das an den strengsten Gehorsam gewöhnte Kind.

„Komm,“ sagte die Alte dann zu der Fremden. „Führe die Herren, Adrienne,“ befahl sie ihrer Tochter.

Marianne folgte ihr ohne Zögern durch die Thür, durch welche jene eingetreten war. Die Tochter der Alten, Adrienne Langlet, führte uns durch eine gegenüberliegende Thür in ein Zimmer; sie selbst trat nicht mit hinein. Es war ein hohes, geräumiges Zimmer; Decke und Gesimse zeigten kunstvolle und noch wohlerhaltene Stuckaturarbeiten. Das Kloster war reich gewesen. Auch die Möbel, die umherstanden, ließen dies erkennen; sie waren so alt und altmodisch, daß sie wohl noch aus den Zeiten der Prioren herstammten, die in diesem Hause wie kleine Fürsten gelebt hatten. Alles war gediegen, von braunem Eichenholze, fest gepolstert, mit schweren Goldleisten und Goldrahmen verziert. Auf einem Tische in der Mitte des Zimmers brannten zwei Wachskerzen.

(Fortsetzung folgt.)




Der Friedhof im Walde.

An einem der köstlichsten Morgen des vorigen Frühsommers, der durch seine Hitze zu Ausflügen in kühle Bergwälder und schattige Thäler einlud, stiegen zwei Männer in dem thüringischen Bergstädtchen Waltershausen aus dem Waggon der Zweigbahn, welche von der Bahnstation Fröttstedt zwischen Gotha und Eisenach von der thüringischen Bahn ab dem in jeder Hinsicht reizendsten Theile des Thüringer Waldgebirgs, dem nordwestlichen, zuläuft. Der Eine war ein hoher Fünfziger mit grauem Haar und edlen Körper- und Gesichtsformen, und der Ausdruck der letzteren wurde noch durch die Furchen erhöht, welche die tiefeinschneidende Pflugschar des Schmerzes und der bittersten Lebenserfahrung so bemerkbar gerade im Antlitz der besten und liebenswürdigsten Menschen zurücklässt. Der Andere mochte kaum in das vierte Jahrzehnt seines Lebensalters getreten sein, und zeigte ein volles, von Glück und Gesundheit geröthetes Gesicht. Sie bildeten noch einen anderen Gegensatz; der Aeltere hatte ein ruhiges, klares Auge, und seine Art sich zu bewegen und zu reden entsprach demselben; des Jüngeren Auge war groß mit einem unruhigen Ausdruck, der an Schwärmerei erinnerte, und in der That sprach er hastig und abgerissen, und sein Gang, seine Bewegungen waren rasch und oft heftig. Beide Männer waren geborene Thüringer und seit einer Reihe von Jahren persönliche Freunde, obgleich der Jüngere schon längst in einer großen Stadt außerhalb Thüringens seine Existenz gegründet hatte. Nichtsdestoweniger wetteiferte er mit seinem Freunde, der in einer thüringischen Hauptstadt wohnte, in Liebe und Begeisterung für das grüne, schöne Geburtsland, ja der Ausdruck seiner patriotischen Gefühle war seiner Charakter- und Temperamentseigenheit nach lebendiger und streifte nicht selten an’s Excentrische.

Wir nennen den Aelteren Bernhard, den Jüngeren Otto.

Ohne sich aufzuhalten oder sich um die zahlreiche Gesellschaft zu bekümmern, die demselben Ziele zustrebte, Rheinhardsbrunn, Inselberg u. s. w., eilten sie in lebhaftem Gespräch der Gebirgspforte zu, welche offen vor ihnen lag. Als Otto nach einigen Minuten in dieselbe einbiegen wollte, hielt ihn Bernhard mit den Worten zurück:

„Lieber, überlaß Dich heute meiner Führung, und laß uns den kleinen Umweg über Schnepfenthal nicht scheuen; er wird sich belohnen.“

„Du willst mich in die Erziehungsanstalt führen?“ fragte Otto etwas verdrießlich. „Ich habe sie schon dreimal besucht und das letzte Mal erst vorigen Sommer, und kenne ihre äußere und innere Einrichtung und was irgend Merkwürdiges in und an ihr ist, für mich genügend genau. So sehr mich der Geist der Ordnung und Sauberkeit dort anspricht, so herabstimmend wirken geistlose Förmlichkeit und deutscher Pedantismus einer menschlichen Dressiranstalt

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 212. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_212.jpg&oldid=- (Version vom 10.4.2023)