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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

No. 17. 1859.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.
Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Das Testament des Verrückten.
Erzählung von J. D. H. Temme.
(Schluß.)

Ich setzte mich wieder auf den Stuhl ihm gegenüber, unbefangen, als wenn nichts vorgefallen sei.

„Ich bedaure,“ sagte ich, „daß ich nicht sofort mit der Aufnahme des Testaments fortfahren kann. Wir müssen eine Pause machen.“

„Warum das?“ fragte er.

„Sie wissen selbst, es muß die Feststellung Ihrer Identität vorhergehen.“

„Freilich.“

„Indeß wird hoffentlich der Pater Theodorus bald eintreffen.“

„Der Pater Theodorus?“ fragte er, wie sich verwundernd.

Verstellte er sich oder hatte er vergessen, daß wir vorher über den Pater gesprochen hatten?

„Er soll Sie recognosciren,“ sagte ich.

„Ah so!“

Er besann sich; er hatte sich also nicht verstellt; aber er wurde wieder unruhig. Warum schon zum zweiten Male bei dem Namen? Ein sonderbarer Gedanke schoß mir auf einmal in die Seele.

„Sie sind mit dem Pater bekannt?“ fragte ich den Kranken.

„Er ist seit meinem Hiersein Pfarrer des Dorfes.“

„Sehen Sie ihn oft?“

„Es ist lange her, daß ich ihn nicht sah.“

„Er scheint ein sehr würdiger Mann zu sein?“

Der Kranke wurde unruhiger. – „Sie kennen ihn?“ fragte er mich.

„Ich bin mit ihm hierher gereist.“

In seinem hageren Gesichte zuckte es, in seinen Augen flackerte es plötzlich wieder; der Irrsinn schien in ihm zurückzukehren. War ich mit meinem Gedanken auf dem richtigen Wege?

„Ich war,“ fuhr ich fort, „mit dem Pater in jener Gegend, in welcher im Jahre 1813 die Franzosen von den Kosaken überfallen wurden.“ Er starrte mich mit den unruhig brennenden Augen an, ohne zu antworten. „Der Pater erzählte von dem Gefechte.“

„Er erzählte?“

„Auch, daß die meisten Franzosen hier niedergemacht worden seien.“’

„Ja, ja.“

„Aber nicht Alle.“

„Nein, nicht Alle.“

Seine Augen brannten unruhiger; auch die helle Röthe flog wieder durch sein Gesicht. Er war wieder in dem Zustande jenes Augenblickes, da die Frau Langlet durch ihr plötzliches Vorspringen meine Unterredung mit ihm unterbrochen hatte. Ich knüpfte unmittelbar und wörtlich an ihn an.

„Die den Kosaken entgingen,“ sprach ich weiter, „fanden nachher wohl ein noch traurigeres Loos?“

„So?“ rief er, lauter und mit einem Blicke, als wenn er mich durchbohren wolle.

„Man spricht davon.“

„Wer spricht davon?“

„Sie sind katholisch?“ fragte ich plötzlich.

„Ja,“ antwortete er rasch.

„Und der Pater Theodorus ist Ihr Beichtvater?“

„Was wollen Sie von mir?“ rief er mit einer furchtbaren Anstrengung seiner Brust.

Meine Gedanken waren auf dem richtigen Wege.

„Nichts,“ erwiderte ich ruhig. „Beantworten Sie mir meine Fragen. Namentlich soll es einem jungen Menschen schlecht ergangen sein.“

„Nein, nein, das ist nicht wahr.“

„Wäre es ein Frauenzimmer gewesen?“’

Mir war plötzlich jene Frage des Secretairs an den Pater eingefallen. Der Kranke flog bei dieser Frage auf dem Sopha in die Höhe und wollte ganz von seinem Lager aufspringen, fiel aber kraftlos zurück. Ein paar Augenblicke lag er wie leblos da; das Gesicht bedeckte Todesblässe, die Augen waren geschlossen. Dann durchfuhr seinen Körper auf einmal eine heftige Zuckung; das Sopha, auf dem er lag, bebte. In sein Gesicht trat die fliegende Röthe zurück. Seine Augäpfel rollten unter den geschlossenen Lidern. Er öffnete sie noch nicht wieder. Der Secretair Hommel war so bleich geworden, wie der Kranke. Neugierig war er in diesem Augenblicke nicht, aber entsetzt.

„Herr Assessor, er stirbt,“ flüsterte er mir zu.

„Noch nicht.“

„Aber ein Testament können wir hier nicht mehr machen.“

„Wer weiß?“

Der Kranke schlug die Augen wieder auf; sie waren stier. Er richtete sie auf mich und auf den Secretair, erkannte uns aber nicht.

„Das ist völlige Verrücktheit,“ flüsterte der Secretair wieder. „Ich sagte es ja, hier machen wir kein Testament mehr.“

„Dann haben wir eine andere Aufgabe.“

„Wie?“

„Zu inquiriren.“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 237. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_237.jpg&oldid=- (Version vom 8.9.2022)