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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Waren das Phrasen, die er vor seinem Irrsinn sich gebildet und eingeredet hatte, um sein Gewissen zu betäuben, und die er jetzt mechanisch wiederholte?

Ich bekam keine andere Antwort mehr von ihm. Der Irrsinn war vollständig in ihm ausgebildet oder vielmehr vollständig, alle bewußte geistige Thätigkeit lähmend, aufhebend in ihn zurückgekehrt. Ich mußte darauf verzichten, noch etwas von ihm zu erfahren, gerade in dem Augenblicke, als ich das Rechte von ihm erfahren sollte, unmittelbar an der Schwelle des eigentlichen Geheimnisses selbst. War hier wirklich ein Verbrechen begangen? Und welches? Ein Mord? Welches andere? –

Ein Testament hatten wir nicht mehr aufzunehmen. Der Zustand des völligen Irrsinns des Kranken war nicht zu verkennen. An eine vollständige Rückkehr klaren, geistigen Bewußtseins war nicht zu denken. Ein Irrsinniger konnte kein Testament machen. So dachte ich. Das Nächste, was ich amtlich zu thun hatte, war, die bisherigen Vorgänge kurz dem Secrctair zu Protokoll zu dictiren. Was dann weiter zu veranlassen war, ob namentlich Schritte zur Ermittelung eines stattgehabten Verbrechens, und in welcher Weise und gegen wen sie zu richten waren – ich war noch nicht mit mir darüber einig, es fand sich ja später wohl.

Ich dictirte dem Secretair das Protokoll, wie wir den Kranken zuerst in anscheinend gesundem geistigen Zustande angetroffen; wie und welche Bestimmungen über seinen Nachlaß er in diesem Zustande, freilich auch unter jener Einwirkung seiner angeblichen Verwandten, der Frau Langlet, getroffen; wie er dann aber plötzlich Spuren eines Irreseins gezeigt, welches nach und nach, namentlich seit der Entfernung der Frau Langlet aus dem Krankenzimmer, zu einem Zustande unverkennbaren vollkommenen Irrsinns sich ausgebildet habe, so daß von dem Acte der Aufnahme eines Testamentes unbedingt Abstand genommen werden mußte.

Das Protokoll war fertig. Ich hatte es laut dictirt, absichtlich; der Kranke konnte und sollte jedes Wort hören; ich wollte mich überzeugen, welchen Eindruck es auf ihn machen werde. Er hatte nicht einmal zugehört. Sein Ohr hatte kein einziges Wort zu seinem Geiste hingetragen. Er lag mit seinem ausdruckslosen Gesichte, seinem stieren Blicke unbeweglich da. Zuletzt war er, wie aus Schwäche, eingeschlafen.

Was nun weiter? Sollte ich die Spuren eines Verbrechens ferner verfolgen? Ich beschloß: nein. Mein amtlicher Auftrag ging nicht dahin. Zudem lag bis jetzt die Existenz eines Verbrechens nur in meiner individuellen Meinung, allenfalls auch noch in der des Secretairs Hommel. Tatsächlich lag eigentlich noch nichts dafür vor. Endlich, war wirklich ein Verbrechen verübt, es war nicht anzunehmen, daß Spuren desselben, die man seit achtzehn Jahren noch nicht verwischt hatte, über Nacht plötzlich hätten beseitigt werden sollen, und morgen konnte das Gericht Entscheidung treffen.

Ich hatte nur noch Eins zu thun: den Angehörigen des Kranken davon, daß und warum ich ein Testament nicht aufnehmen könne, Mittheilung zu machen. Nächster Angehöriger war der Sohn des Kranken. Doch konnte ich auch die Frau Langlet nicht übergehen, da sie auf alle Fälle in dem Testamente hatte bedacht werden sollen.

Um den Kranken nicht zu stören, wollte ich das Weitere in einem andern Zimmer verhandeln. Ich begab mich mit dem Secretair in das Zimmer nebenan, in das man uns zuerst eingeführt hatte.

Ich zog dort eine Klingelschnur. Augenblicklich erschien die Frau Langlet. Sie mußte sich in nächster Nähe aufgehalten haben. Gehorcht hatte sie indes nicht. Sie sah mich mit mißtrauischer Neugierde an.

„Ist der junge Herr Lohmann zu Hause?“ fragte ich sie.

„Ja.“

„Haben Sie die Güte, ihn zu mir zu bitten und selbst mit ihm zurückzukehren!“

„Sind Sie mit dem Testamente schon fertig?“

„Sie werden es erfahren.“

Sie ging. Nach wenigen Minuten kehrte sie zurück. Ein junger Mann in der Mitte der zwanziger Jahre folgte. Es war ein hübscher Mann mit einem feinen Gesichte. Aber das Gesicht war sehr blaß, und es lag unverkennbar eine tiefe Trauer darin, und sie mußte schon sehr lange darin gelegen haben, alle Züge hatten sich nach ihr geformt und gebildet.

„Sie sind der Sohn des Herrn Lohmann?“ redete ich ihn an.

„Der Kranke ist mein Vater.“

„Er wollte sein Testament errichten. Sie hatten die Eingabe an das Gericht geschrieben?“

„Im Auftrage meines Vaters.“

„Ihr Vater hatte den vollen Gebrauch seiner Vernunft, als er Ihnen den Auftrag gab?“

„Er war vollkommen vernünftig.“

„Aber er litt früher an Geistesabwesenheit?“

„Leider.“

„Mit lichten Augenblicken?“

„Es trat oft ein Wechsel ein.“

„Er ist gegenwärtig ohne alles Bewußtsein; ich habe daher von der Aufnahme seines letzten Willens Abstand nehmen müssen.“

Die Frau Langtet hatte sich mit Anstrengung ruhig gehalten; sie konnte es nicht mehr.

„Sie haben sein Testament nicht aufgenommen?“ rief sie.

„Nein, Madame.“

„Aber er hat Ihnen seinen letzten Willen erklärt, deutlich, bei vollem Verstände; sie müssen ihn zu Protokoll nehmen.“

„Madame, über meine Pflicht habe ich nicht mit Ihnen zu rechten.“

Sie wandte sich an den jungen Mann. „François, auch Du mußt darauf bestehen. Dich hatte Dein Vater zum Erben eingesetzt, zu seinem Universalerben.“

Der junge Mann stand verlegen, unentschlossen da. Ich erkannte in dem Augenblicke sein Verhältniß zu der Frau, überhaupt seine Stellung in dem Hause. Ich mußte unwillkürlich weiter schließen. Er war bescheiden, zurückhaltend, beinahe schüchtern eingetreten. Auch in seinen Antworten, die er mir geben mußte, war er zurückhaltend. Die Gegenwart der Frau, die auch über seinen Vater jene Gewalt ausübte, schien ihn zurückzuhalten. Seine Verlegenheit und Unentschlossenheit der heftigen Aufforderung der Frau gegenüber bestätigten es mir. Dabei merkte man ihm den Widerwillen an, den das gemeine Weib ihm einflößte, dem jungen Menschen mit dem feinen und wahrlich nicht geistlosen Gesichte einflößen mußte. Er mochte sie kaum ansehen. Dazu seine tiefe Trauer, dazu ferner jenes Verlangen der Frau Langlet, daß er ihre blödsinnige Tochter heirathen solle; dazu endlich meine Vermuthung, daß die hübsche Marianne zu ihm gewollt hatte. Mußte das Alles mich nicht wiederholt auf ein Verbrechen hinführen, das dem Weibe, obwohl sie vielleicht selbst Theil daran hatte, diese Gewalt über das ganze Haus gab, von dem auch der Sohn Kenntniß oder doch Ahnung hatte? Die Frau Langlet war wüthend geworden, als der junge Lohmann ihr nicht sogleich gehorchte.

„Sie müssen noch bleiben!“ rief sie mir zu. Dann stürzte sie in das Krankenzimmer.

Im ersten Moment wollte der junge Mann ihr nacheilen; aber er besann sich, er blieb und trat rasch auf mich zu.

„Mein Herr, mein Vater hat Ihnen in der That seinen letzten Willen erklärt?“

„Ja, mein Herr.“

„Vollständig?“

„Vollständig.“

„Und er war völlig bei Vernunft?“

„Damals noch. Ich hatte wenigstens keine Veranlassung, daran zu zweifeln.“

„Sie hatten auch seine Anordnungen zu Protokoll genommen?“

„Ich mußte es.“

Als die Frau Langlet sich entfernte, hatte er sich sichtlich erleichtert gefühlt. Aber ein neuer Druck lastete auf ihm, der einer peinlichen Ungewißheit. Er mußte Gewißheit haben.

„Mein Herr, dürfen Sie mir die Bestimmungen meines Vaters mittheilen?“

„Ich bedauere.“

„Ah, ich kenne sie. Ich soll die Tochter jener Frau heirathen. Ist es nicht so?“

Ich zuckte die Achseln, zum Zeichen, daß ich ihm nichts sagen dürfe. Aber er war seiner Sache gewiß.

„Ist die Bedingung bindend für mich?“

„Mein Herr, ich darf mich auch darüber nicht gegen Sie aussprechen.“

Er wurde beinahe heftig. „Sie kann nicht bindend für mich sein. Sie ist auch nicht sein wahrer, freier Wille. Ich werde mich ihm nie unterwerfen. Ich habe lange genug hier in Abhängigkeit, als Sclave gelebt. Jetzt nicht mehr.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 239. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_239.jpg&oldid=- (Version vom 8.9.2022)