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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

abgeworfen, hatte ihrem Ungetreuen unvertilgbare Angewöhnungen hinterlassen, ihn gleichsam für immer gezeichnet. Er hieß eigentlich Legras, hatte den Familiennamen seiner reichen Frau „de Bergagny“ noch dazu genommen, und nannte sich Chevalier. So bildete sich aus dem Anspruch des Ritterlichen, aus dem Benehmen für das Polizeiliche zu seiner klösterlichen Haltung eine sehr eigenthümliche Erscheinung. Er konnte sehr liebenswürdig sein, so lange ihn sein Temperament nicht zu Härte und Unbesonnenheit hinriß. Das Deutsche war ihm fremd, und seine Maßregeln hingen mithin von den französischen Berichten ab, die er erhielt. Wie sehr er aber auch im echt französischen Sinne verwaltete, geht daraus hervor, daß er einst, bei Durchsicht der Strafregister, als man die abnehmenden Polizeistrafen mit der Abnahme der Vergehen und Verbrechen entschuldigte, sehr unzufrieden ausrief: „Il faut créer des crimes!“ (Man muß Verbrechen hervorrufen!)

Aber auch in seiner klugen und taktvollen Rücksichtnahme zeigte sich der Franzose. Er hatte ein Töchterchen von acht bis neun Jahren, in Paris erzogen und durch ungemein graciöses Wesen ausgezeichnet. Wenn es auf Kinderbällen eine französische Quadrille mit tanzte, erhob sich Alles von den Spieltischen, um der kleinen anmuthigen Tänzerin zuzusehen. Es läßt sich denken, in welcher Verzweiflung die vernarrten Eltern bangten, als ihr Liebling einst schwer erkrankt lag. Der Arzt H. behandelte das Kind, und es genas. Als der vergnügte Vater den Arzt mit Worten des Dankes und einem artigen Geschenk entließ, drückte er ihm zugleich ein Päckchen Papiere in die Hand. Zu Hause geöffnet, enthielt es mehrere Briefe des Arztes, an verschiedene Freunde geschrieben und ihres freimüthigen Inhaltes wegen von der Polizei bei der heimlichen Eröffnung zurückbehalten. – – – War dies eine schonende oder die kluge Rücksicht, erst noch mehr solche Briefe abzuwarten, ehe man dem Schreiber den Proceß mache?

Bergagny war lange ein Günstling des Königs, bis Jerome einst, sehr ergrimmt darüber, daß der kaiserliche Bruder alle, auch die kleinsten Vorfälle vom Kasseler Hof kannte, von Paris zurückkam und von Bergagny wissen wollte, wer wohl die verrätherischen Berichte an den Kaiser abstatte. Der Polizeidirector wußte es nicht und konnte es nicht ermitteln. Dies verstärkte nur noch mehr den Unwillen des Königs. Da versprach ihm Bongars, der Legionschef der Gensd’armerie, den Berichterstatter auszumitteln. Er schickte einen gewandten Menschen nach Paris, der im Einverständnisse mit der Post alle Kasseler Briefe eröffnete. Da ergab sich denn der General-Commissar der Polizei in Kassel, Herr Savagner, als der Verräther. Alsbald wurde derselbe des Landes verwiesen, Bergagny ungnädig entlassen, und Bongars zum Generaldirector der hohen Polizei bestellt.

Bongars, Staatsrath und Ritter des holländischen Ordens, ein Sechziger von hohem, stattlichem Wuchs, etwas mager und in seiner Haltung vorgebeugt, trug kurzes graues Haar, war weit weniger als Bergagny unterrichtet, aber von bedeutenden Gesichtszügen und freundlichem Aeußeren, so sehr er auch wieder Hitzkopf und ziemlich brutal sein konnte. Er hatte noch als Edelknabe am Hofe Ludwig’s XVI. gestanden und war jetzt ein braver Hausvater. In der öffentlichen Meinung war er verhaßt, da man wußte, daß er durch seine Gensd’armen die Familien überwachen ließ. Auch war von ihm das Verbot veranlaßt, daß kein Beamter einen – Bart unterm Kinn tragen durfte. Er wollte nämlich wissen, daß solches Barthaar das Abzeichen, das Erkennungszeichen der Mitglieder des preußischen „Tugendbundes“ sei, – einer Verbindung in Preußen, deren wir noch gedenken werden.

Seiner nicht allzugroßen Fassungsgabe begegnete eine fast unglaubliche Täuschung, die uns einen tiefen Blick in die damalige Lage der Kasseler Verhältnisse thun läßt.

Zu einer vacanten Schreiberstelle in den Bureaux der Gensd’armerie meldete sich nämlich eines Tages bei Bongars, dem Legionschef, ein mit den besten Zeugnissen versehener junger Mensch aus einer armen, aber als ehrenwerth bekannten bürgerlichen Familie. Er gefällt dem freundlichen Manne, wird für die Stelle angenommen und macht sich auch sehr bald durch Fleiß, Aufmersamkeit und Hingebung an das Interesse der neuen Regierung so beliebt, daß Bongars ihn bei seiner Militairpflicht durch Aufnahme in das Gensd’armerie-Corps in der Weise erleichtert, daß er, ohne ihn wirklich Dienst thun zu lassen, seinen Namen in den Controlen des Corps vorrücken läßt, um ihm dadurch den Zuschuß der Löhnung zu seinem Gehalte als Schreiber zuzuwenden. Nicht zufrieden damit, zieht er ihn auch in seinen liebenswürdigen Familienkreis, sorgt durch Privatunterricht für seine höhere Ausbildung und verschafft ihm dann einen Platz mit ansehnlichem Gehalte im Generalsecretariate des Ministeriums der hohen Polizei. Ja, er dehnt dies Wohlwollen auf die Familie des jungen Menschen aus und bringt einen seiner Brüder auf die einträgliche Stelle eines Kriegscommissars. Kurz, er handelt als Vater an ihm, hat kein Geheimniß vor ihm und überhäuft ihn mit Beweisen von Liebe und Vertrauen. Und der Schützling erkennt dies auch und vergilt Alles durch die lebhaftesten Darlegungen von Dankbarkeit und Ergebenheit. Früh und spät ist er auf seinem Platze. Bei allen lauten Huldigungen für den König und zu Gunsten der öffentlichen Gewalt gibt er den Ton an. Wenn, um eins anzuführen, bei festlichen Gelegenheiten der König und die Königin im Theater die große Loge betreten, und das Orchester die Melodie des alten beliebten Volksliedes anhebt: „Où peut-on être mieux qu’au sein de sa famille?“ ist gewiß der junge Mann der Erste, der durch Zuruf und Händeklatschen sein Entzücken beurkundet und das Publicum zu gleichen Beifallspenden herausfordert.

So schwang er sich immer höher in der Gunst des Generals Bongars, der Familie desselben und der öffentlichen Behörden, die alle in ihm den dankbarsten Menschen und den treuesten Anhänger der Jerome’schen Herrschaft erkannten.

Dies dauerte Jahre lang, bis gegen Ende September 1813 Kassel eines schönen Morgens von dem fliegenden Corps Czernitschew’s, der über die Elbe gegangen war, überrascht wurde. Dieser feindliche Besuch kam so unvermuthet neben der großen Armee her, daß kaum eine halbe Stunde voraus die Stadt von einigen dem Feind entgangenen Gensd’armen aufgeschreckt wurde. Doch brachte man es noch dahin, daß durch die guten Maßregeln des ausgezeichneten Artilleriegenerals Allix, durch die tapfere Haltung der Soldaten auf der Fuldabrücke, durch eine Batterie unter dem Befehl des Prinzen Salm und besonders durch die wohlgerichteten Schüsse der Gardejäger unter dem Prinzen von Hessen-Philippsthal der Einzug Czernitschew’s aufgehalten wurde. Während dessen hielt Jerome auf dem Schloßplatze einen Kriegsrath, nach welchem er selbst und die Minister unter Bedeckung der Garde du Corps die Residenz durch das Frankfurter Thor verließen und Allix das Generalcommando übernahm. Am Abende kam auf Andrängen der Behörden und der Bürger eine Uebereinkunft zur Uebergabe der Stadt zu Stande, in Folge welcher die westphälischen Truppen durch das holländische Thor abzogen und zwei Stunden später Czernitschew seinen Einzug hielt. Durch die gute Mannszucht des russischen Generals gingen alle Geschäfte, ja selbst die gewohnten Vergnügungen des Theaters ihren gelassenen Gang.

Aber was wurde mit unserem jungen Manne, dem Günstlinge des mitentflohenen Bongars? War er seinem Gönner gefolgt?

Vom Augenblicke des Abzugs Jerome’s war er unsichtbar geworden und man zweifelte nicht, er sei mit seinem Wohlthäter entflohen, bis nach dem Rückzüge Czernitschew’s, der sich nur wenige Tage mit seinem Corps in Kassel hielt, das Gerücht sich verbreitete, der arme Mensch sei in seinem Versteck aufgefunden und als Gefangener mit fortgeführt worden. Einige wollten ihn auch in einem von Kosaken begleiteten Wagen erblickt haben. Jedenfalls war er fort und blieb es auch, als der König Jerome bald wieder in seine Residenz zurückkehrte. Bongars, der mitkam und das Schicksal seines Lieblings erfuhr, war untröstlich darüber und soll zu Thränen gerührt gewesen sein.

Erst als Jerome, nach der Schlacht bei Leipzig, am 26. Oct. zum zweiten Male und für immer aus Kassel floh, kam unser junger Mann wieder zum Vorschein, und zwar im Gefolge des damaligen Kurprinzen, Vaters des jetzt regierenden Kurfürsten. Und nun erfuhr man denn, daß er nicht als Gefangener, sondern als Schützling Czernitschew’s Kassel verlassen hatte. Diesem russischen General hatte er sich nämlich entdeckt und durch Documente als einen treuen Anhänger des Kurfürsten ausgewiesen, dem er unter der Maske der Ergebenheit gegen die Franzosen und durch seine Stellung bei der Polizei begünstigt, über alle, auch die geheimsten Vorgänge in Kassel genaue Berichte nach Prag auf verabredeten Wegen regelmäßig erstattet hatte. Das Unerhörte war ihm gelungen und es bleibt höchst merkwürdig, daß die oberste Polizeigewalt, zum Schutze des Königs organisirt, einen so gefährlichen Gegner in ihrem eigenen Schooße gehegt und aufgenährt hatte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 275. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_275.jpg&oldid=- (Version vom 10.5.2023)