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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

nicht von dem gesunden Sinne des Volkes bei Seite geworfen, sind sie nicht gescheitert? Trotz aller Fehlgriffe der Deutschen in Beurtheilung unserer Zustände sind doch die Amerikaner im Allgemeinen ihnen gewogen geblieben. Es liegt das mit an der Sicherheit, daß viele Vorwürfe nicht treffen. Der Vorwurf des Mammonismus wird keinen Amerikaner kränken, weil er weiß, daß er nach außen so scheinen muß, aber sich innerlich davon frei weiß. Er hat dieses subtile Rechtlichkeitsgefühl nicht, das schon den Schein meidet. Geld ist bei uns wirklich Nebensache, weil wir es nur als Mittel betrachten. Wer Geld hat, ist dem Amerikaner nur so lange eine Größe, eine Autorität, so lange er Geld machen kann, d. h. so lange er die Geschicklichkeit und Fähigkeit und auch das Glück im Geschäfte besitzt. Leider zieht sich auch dieser fatalistische Zug, wie so manches Unreine, mit in die Anschauungsweise des Amerikaners. Ich selbst würde mich besinnen, ob ich Jemand, der wiederholt vom Glück nicht begünstigt ward, neuen Credit geben könnte. Aber verlassen wird er darum nicht, wenn man ihn auch fallen läßt. In unseren Comptoiren finden sich stets angenehme Stellungen für denjenigen, welcher keinem eigenen Geschäfte vorstehen kann, weil er ohne Glück arbeitet. Ist das aber Mammonsdienst, daß wir mit aller Seelenruhe unser Hab und Gut an die großartigsten, also gewagtesten Unternehmungen setzen? Heute bin ich reich – morgen besitze ich nichts und habe doch die volle Macht über alle meine Unternehmungen, weil Niemand, nicht allein mich, sondern auch diese im Stiche lassen will, scheinen sie auch abenteuerlich. Ist denn eine Eisenbahnlinie, ist ein Brückenbau uns unmöglich gewesen? Oder sollte ihr Gewinn mit den Kosten im Verhältnisse stehen? Meistens – ja, denn wir sind praktisch, aber selten mit den aufgewandten Geistesarbeiten.“

Harry schien sehr viel daran zu liegen, mein Urtheil über Amerika günstig zu stimmen. Es gelang ihm jetzt leichter, und seine Persönlichkeit, seine Freundschaft für mich, die immer offener und herzlicher wurde, trugen wohl viel dazu bei. Das meiste Gewicht hatte wohl die Thatsache, daß dieser junge Mensch, der über fürstliche Einkünfte gebot, so ganz sich in Dienst seines Vaterlandes stellte, allen seinen Entwürfen diesen Hintergrund gab, sein Leben für nichts achtete, um seine Gedanken durchzuführen, um wie viel weniger würde er es mit seinem irdischen Besitze gethan haben! Die Einbildung ward mir bald genommen, daß etwa Harry meinetwegen diese Reise unternommen; er hatte mich eben mitgenommen, um mich aus den traurigen Verhältnissen, die meine Gedanken um mich geschaffen, herauszureißen; und das mußte ich ihm Dank wissen.

Aber weshalb denn? Was für ein besonderes Interesse hatte er für mich? So fragte ich mich.

Ben und Dick hatten verwundert unsere geognostischen Untersuchungen mit angesehen. Sie mochten zuerst glauben, daß wir Gold suchen wollten; ein verächtliches Gewerbe für einen braven Jäger. Mochten sie uns nun für wunderlich halten, als sie von dieser Meinung zurückkamen, so gaben sie uns bald, namentlich Dick, treffende Fingerzeige. Ueberhaupt durchbrachen oft Geistesblitze sein rauhes Jägeräußere, die von einer sorgfältigen Erziehung zeugten. Ein Vorfall sollte uns Aufschluß geben.

Wir waren wieder auf der Prairie. Gebrauchten wir Mundvorrath, so wurde Jagd gemacht, und ich war bald aus der Lehre entlassen worden. Die Anstrengungen der Reise waren etwas Gewohntes, und hatten nichts Ermüdendes. Es ward mir deshalb auch nicht schwer, die Stunden der Wache, die auf mich fielen, regelmäßig wach zu bleiben. In meine Decke gehüllt, saß ich eines Abends, und über mir zog der Sternenhimmel in einer Pracht und Klarheit auf, wie er nur in den Prairien oder vielleicht in den Wüsten des Orients gesehen wird. Mein treuer Hund lag bei mir wachend, seine klugen Augen auf mich gerichtet. So versank ich in Träumereien, und wie im Traume sang ich:

„So viel Stern’ am Himmel stehen
An dem güldenen blauen Zelt;
So viel Schäflein, als da gehen
In dem grünen, grünen Feld,
So viel Vöglein, als da fliegen,
Als da hin und wieder fliegen:
So viel Mal sei Du gegrüßt,
So viel Mal sei Du gegrüßt!“

Ich hatte leise vor mich hingesungen, allmählich mit halber Stimme und sang weiter:

„Mit Geduld will ich es tragen,
Denk' ich immer nur zu Dir –“

Da fühlte ich meinen Arm plötzlich wie von einem Schraubstock umschlossen, mein Caro sprang gleich mir überrascht auf – ich die Flinte in der Hand, mein Caro dem Angreifer an der Brust, aber mit geringer Mühe von diesem zurückgehalten, fanden wir uns Dick gegenüber. Natürlich waren auch Harry und Ben aufgesprungen und hatten zu den Waffen gegriffen, da wir nichts Anders, als einen Ueberfall vermutheten. Ehe wir uns von unserer Überraschung erholen konnten, hatte Dick meinen Arm losgelassen, den Hund leicht abgewehrt und war, die Hände vor dem Gesichte, in die Prairie hinausgegangen. Ich erzählte, was sich begeben, aber Niemand konnte sich das seltsame Wesen Dick’s erklären. Wir erschöpften uns in Muthmaßungen, da – was war das? Leise tönte es über die Prairie:

„Mit Geduld will ich es tragen,
Denk’ ich immer nur zu Dir!“

„Ich habe das Lied gesungen!“ sagte ich zu Harry.

„Sollte Dick ein Deutscher sein?“ wandte sich dieser zu Ben.

„Kenne Dick seit zwanzig Jahren. Er ist ein echter Pionier und kein Deutscher!“ antwortete dieser.

German, mehr noch das amerikanisirte Dutske hat einen verächtlichen Nebenbegriff für den Amerikaner. Es wird damit Jemand bezeichnet, der sich leicht hintergehen, betrügen läßt; eine keineswegs empfehlenswerthe Eigenschaft für den Pionier des Westen. Für mich konnte kein Zweifel sein, daß Dick ein Landsmann, denn ich hörte Melodie und Lied weiter singen:

„Alle Morgen will ich sagen:
O mein Lieb’, wann kommst zu mir!“

Ich ging Dick nach, und fand ihn, den Kopf gestützt, wie er den Vers zu Ende sang:

„Alle Abend will ich sprechen,
Wenn mir meine Aeuglein brechen:
O mein Lieb’, gedenk’ an mich!
O mein Lieb’, gedenk’ an mich!“

Leises Weinen unterbrach seinen Gesang. Meine Hand rührte seine Schulter. Er ergriff sie und zog mich zu sich nieder. Die Thränen flossen über die verwitterten Wangen.

„Landsmann, was habt Ihr?“ fragte ich.

„Landsmann, was habt Ihr?“ wiederholte er, als wenn er sich die Worte einprägen wollte, dann fuhr er englisch fort. „Mann, Mann, es war Alles begraben, und Ihr weckt das Todte auf! Meine Sprache habe ich verlernt, aber ihre Lieder nicht! Was soll’s dem armen Dick in der weiten Ferne?

Auf dem Kirchhof will ich liegen,
Wie das Kindlein in der Wiegen,
Das die Lieb’ thut wiegen ein,
Das die Lieb’ thut wiegen ein!“

Ich hatte seine Hand in der meinen und mußte mit ihm weinen.

„Seid Ihr auch ein Verbannter, ein Heimathloser?“ fuhr er fort. „O, vergeßt diese Lieder, sie sind unser qualvollster Trost. Ich habe sie so oft in die stille Nacht hineingesungen; ich habe die Indianer mit ihnen angelockt, daß sie mich scalpirten. Seit der Zeit wollte ich sie vergessen und habe sie nur nicht gesungen. Was kommt Ihr in die Prairie, einen alten Mann zu quälen? Ach, und ich danke Euch, ich danke Euch doch für diese Qual! Es lag mir auf dem Herzen wie Blei. Ich habe doch einen Menschen gefunden! – Mir ist so leicht geworden, als wäre ein Bann von mir genommen.“ – Er stand auf und schüttelte sich. „Kommt, Mann! Was soll Ben von mir denken!“ sprach er und ging auf das Lager zu.

An Schlaf war nicht zu denken, und da Dick seine volle Fassung wieder gewonnen hatte, bat ich ihn, uns seine Schicksale zu erzählen.

„Mein Vater war ein Prediger und starb früh. Ich kam auf das Waisenhaus zu Halle und besuchte dort die lateinische Schule. Mit einem guten Stipendium versorgt, ging ich zur Universität ab. Es war mein letztes Semester; ich stand vor meinem Examen. Habt Ihr vom Wartburgsfeste gehört? Nun hört, ein Graf Keller trug die Fahne, und ich ging neben ihm. Ich war auch mit dabei und schürte das Feuer an. Wißt Ihr noch von der Burschenschaft? Seht, es kam langsam nach. Ich hatte schon das erste Examen gemacht, da sollte ich verhaftet werden. Meine Mutter starb vor Schreck, und meine Braut trieb mich fort; ich floh. Auf zehn Jahre lautete mein Urtheil, so hat sie mir später geschrieben, denn sie blieb mir treu, bis sie starb. Da bin ich in die Prairien gegangen. Es wollte mir so nicht glücken in den Städten, Was sollte ich dort? Ich brauchte kein Haus, seitdem Marie todt war; es lebte Niemand, für den ich arbeiten konnte.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 512. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_512.jpg&oldid=- (Version vom 23.11.2023)