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verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

zu Eis gewordener Wasserfall stürzte neben ihm die riesige Fuschkahrkees herab. Dann erhob sich der Breitkopf, durch einen vielfach zerklüfteten Gletscher von dem kolossalen Würfel der Hohen Docke getrennt, auf welche eine Reihe Schneeriesen, der Hohe Gang, die Glocknerin, der Bratschenkopf, das Wiesbachhorn, die Teufelsmühle, der kleine Wiesbach und der Hohe Tönn, durch riesige Gletscher von einander getrennt und auf weißen Firnmeeren stehend, folgten.

Fast eine Stunde saß ich hier, im Anschauen dieses grandiosen Hochgebirgebildes ganz verloren, und horchte auf den Donner der Lawinen, welche sich an den Schneegipfeln und auf den Schneefeldern unter den Strahlen der Sonne loslösten und auf die Gletscher hinunterstürzten. Ich bemerkte nicht, daß sich die Kalkzinnen des Steinernen Meeres und des Watzmanns allmählich mit leichten, grauen Wölkchen umhüllten, und überhörte den Wind, welcher von Minute zu Minute heftiger wurde. Rederer mahnte fortwährend zum Aufbruch. Als ich immer noch keine Anstalt machte, meinen Platz zu verlassen, rief er endlich, ganz verdrießlich werdend, aus:

„Steigen Sie doch die paar Schritte bis zum Kreuz hinan, Sie werden sich dann bald überzeugen, was uns bevorsteht!“

Wir hatten nämlich einige Fuß unter dem Gipfel Halt gemacht, um vor dem Luftzüge auf der Höhe des Joches besser geschützt zu sein. Ich stieg hinauf und sah in den jenseitigen Felsenkessel hinunter. Oben brauste der Wind mit enormer Heftigkeit. Die Aussicht war in eine öde Steinwüste, in ein wildes Trümmermeer. Links sah ich in die obere Hälfte des Rauriserthals. Gegenüber erhob sich ein großes Eisfeld, der Weißenbacher Kees. Rechts von demselben zog der Felsenkamm der Tauernkette, mit weiten Schneefeldern bedeckt, zum Brennkogl hinan. Der ganze Kamm war bereits mit Wolken umhüllt; die Felsenspitze des Ritterkopfes war schon in Nebeln verschwunden und kaum noch erkennbar. Der Wind tobte an den Wänden und Felsenriffen aus dem Rauriser Thal herauf, als wenn er sich gefangen fühlte und einen Ausweg suchte.

„Sehen Sie dort die Scharte rechts am Kamm?“ fragte mich Rederer, mit der Hand mir die Richtung andeutend. „Das ist das Hohe Thor, da müssen wir hinüber. Hätten Sie einen andern Führer, so wäre es das Beste, wieder umzukehren, denn gleich werden Sie die Scharte nicht mehr sehen.“

Jetzt erkannte ich das heranziehende Wetter und begriff die Gefahr. Im Nebel den Weg aus dieser Steinwüste zu finden, war nur so lange ohne Schwierigkeit, als man an der Scharte des Hohen Thors die Richtung erkennen konnte. Noch einige Secunden, und sie war vom Nebel umhüllt. Ich sah Rederer etwas zweifelnd an.

„Glauben Sie bestimmt, mich hinüber zu bringen, Rederer?“ fragte ich.

Der starke, große Mann sah mich mit seinem ruhigen Blick fest an. „Sind Sie müde, Herr?“ fragte er.

„Nicht im mindesten,“ erwiderte ich.

„Dann vorwärts,“ rief er, „ich habe den Weg noch nie verfehlt.“ Und so schnell wie möglich kletterten wir in die Steinwüste hinunter.

Wer nie im Hochgebirge ein Nebelwetter oder einen Schneesturm erlebte, hat von der Heftigkeit und der Schnelligkeit des Eintretens desselben keinen Begriff. In wenigen Minuten ist man so in Nebel eingehüllt, daß man den neben sich Stehenden nicht mehr sieht, ja daß man sogar seine eigene Gestalt kaum erkennen kann. Einer meiner Freunde, der praktische Arzt Dr. Keesbacher in Venedig, gerieth bei dem Uebergang von Murwinkel in das Großarlthal in ein solches Nebelwetter und war gezwungen, eine ganze Stunde lang auf demselben Fleck stehen zu bleiben, weil er bei jedem Schritt in einen Abgrund zu stützen fürchtete, so wenig konnte er die Situation in der nächsten Nähe erkennen. Er wagte ebensowenig sich niederzulegen, weil er nicht wußte, ob er nicht auf einer hohlen Platte stände, welche bei der geringsten Bewegung nachgeben könne. Wenn ich nicht irre, passirte es Herrn v. Simony, dem Saussüre des Dachsteingebirges, bei seiner Ersteigung des Traunsteins, daß er bei einem so plötzlich eintretenden Nebel drei Stunden an ein und derselben Stelle stehen mußte. Wie der Nebel sich verzog, sah er, daß er auf einer über den See hinaushängenden Platte stand, von der die geringste Bewegung ihn in die Tiefe gestürzt hätte. Dergleichen haben wir hier nicht zu fürchten; aber das Verlieren des Weges war fast ebenso gefährlich; denn mit dem Nebelwetter pflegt gewöhnlich eine empfindliche Kälte und in Folge derselben ein Schneefall einzutreten, und das Wetter konnte den ganzen Tag anhalten. Wir befanden uns in einer Meereshöhe von über siebentausend Fuß. Im vergangenen Frühjahr waren, wie ich schon erwähnte, bei diesem Uebergang sieben Menschen umgekommen; ihre Leichen lagen entfernt von einander, da, wo Jeden seine Kräfte verlassen hatten und wo er hingesunken war. Als wir die Tiefe des Felsenkessels erreicht hatten, war der Nebel so dicht geworden, daß wir die nächste Umgebung nicht mehr erkannten. Rederer ging nur einen Schritt vor mir; trotzdem erschien mir seine große, kräftige Gestalt nur in dämmernden Umrissen. Ich faßte den Strick, den er über der Schulter trug, um ganz in seiner Nähe zu bleiben. Der Wind trat immer heftiger auf. Es ist ein ganz eigenthümliches Zischen und Schlagen, mit dem er sich an den Felsenrissen bricht. Der Weg war außerordentlich mühsam und führte fortwährend über Geröll und Felsblöcke, bald hinauf-, bald hinabsteigend. Die Schneestangen, mit denen er bis auf das Hohe Thor bezeichnet ist, waren erst dann sichtbar, wenn wir gerade vor ihnen standen. Rederer schien ihn mit einem gewissen Instinct herauszufühlen. Um uns fortwährend zu vergewissern, daß wir nicht irrten, berührten wir jede Schneestange, an der wir vorbeikamen, mit der Hand. Ich stolperte mehrmals und fühlte an der Berührung mit dem Fuße, daß die Gegenstände, an welche ich stieß, keine Steintrümmer waren. Ich rief Rederer zu, was denn das sei, ob wir auch auf dem richtigen Wege wären?

„Daran fühle ich, daß wir auf dem richtigen Wege sind,“ erwiderte er. „Das sind die Gebeine der hier gefallenen Pferde, welche vor mehr als hundert Jahren umgekommen sind, als noch ein Saumpfad über das Hohe Thor führte.“

In dieser Situation von Gebeinen Verstorbener zu hören, wenn es auch nur Thiere waren, war gerade keine angenehme Neuigkeit. Um mich zu vergewissern, daß dem so war, blieb ich stehen, bückte mich und hob einen Gegenstand auf, an dem ich gerade neuerdings gestolpert war. Ich hielt einen Kinnbackenknochen eines Pferdes in der Hand, in dem noch alle Zähne befindlich waren.

Nachdem wir so ungefähr zwei Stunden fortgeschritten waren, machten wir einen kurzen Halt, ruhten stehend aus und stärkten uns durch einige starke Züge aus der Flasche, welche ich im Tauernhaus mit Wachholderbranntwein hatte füllen lassen. Rederer wiederholte mir mit der größten Bestimmtheit, daß wir auf dem richtigen Wege seien und in einer Stunde auf der Höhe des Hohen Thors stehen müßten. Der Nebel wurde jetzt empfindlich kalt, und der Wind wurde schneidend. So schnell wie möglich stiegen wir weiter hinan, obschon der Weg immer steiler und beschwerlicher wurde. Noch fühlte ich nicht die geringste Müdigkeit. Nun fielen einzelne Schneeflocken und nach wenigen Minuten war aus dem Nebel ein dichtes Schneewetter geworden. In dem scharfen, eisigen Winde krystallisirten sich die einzelnen Schneeflocken zu Eis und berührten das Gesicht in einer höchst empfindlichen Weise. Der Wind schien mit jeder Minute an Heftigkeit zuzunehmen. Dazu wurde das Gehen im Schnee immer schwieriger.

„Jetzt kann ich nicht mehr irren,“ rief Rederer, an einer neuen, auf Steintrümmern befestigten Schneestange ankommend, „die Stange habe ich erst vor vier Wochen hier eingesteckt. Es ist gut, daß uns das Schneewetter nicht eine Stunde früher getroffen hat, sonst wäre es schlimmer gewesen.“

Ich begriff, was er meinte. In dem Schnee konnte er nicht mit dem Fuße fühlen, ob er auf die Knochen der hier gefallenen Pferde trat.

Immer steiler ging es nun hinan, immer schneidender wurde Kälte und Wind; schon an der immer dünner werdenden Luft empfand ich, daß wir zu bedeutender Höhe emporstiegen. Dann hörte ich Rederer vor mir rufen: „Wir stehen auf dem Hohen Thor.“

Ich stieg die zwei Schritt, die ich hinter ihm geblieben war, hinan. Rederer stand neben einem Pfahl, auf dem in einer hölzernen Blende ein Christusbild befestigt war. Das Kreuz, welches früher dort stand, haben die Stürme und Schneewetter zerbrochen und hinunter gestürzt. Es herrschte hier oben eine eisige Temperatur. Das Hohe Thor hat eine Meereshöhe von 8058'. Als ich ganz nahe an das Bild hinantrat, berührte ich mit dem Fuß einen Körper. Ich blickte mich herab, um zu untersuchen, was es war, und erstaunte, als ich eine junge Bäuerin neben der

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verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1859, Seite 718. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_718.jpg&oldid=- (Version vom 30.11.2023)