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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Auch Eva seufzte. Es war ihr bang und schwer zu Muthe. Wenn sie sich auch sagen durfte, daß die Mutter in ihrer Sorge übertrieben hatte, so mußte sie doch auch zugeben, daß viel Wahres in ihrer Schilderung der Verhältnisse lag. Die Schmerzen und Zweifel vieler Jahre, die in den letzten Wochen vor Lothars unverkennbaren Liebesbeweisen gewichen waren, kehrten wieder und erschütterten die Zuversicht, die Eva noch vor Kurzem erfüllte. Aber sie wollte dieser Schwäche nicht nachgeben. Sie hatte die Ueberzeugung gewonnen, daß sie Lothar wieder so unentbehrlich war, wie in alter lieber Zeit, vielleicht noch unentbehrlicher – wie durfte sie da zögern und zagen? Ob sie ihrer Aufgabe gewachsen war, – ob sie daran zu Grunde ging, das lag in Gottes Hand.

Wieder ermuthigt, richtete sie sich auf und lehnte sich aus dem Wagenfenster, um die brennende Stirn in der Nachtluft zu kühlen.

Der Mond war aufgegangen und hatte die Nebel besiegt. Wiesen und Felder schimmerten in seinem sanften Lichte, und in der Ferne, über dem Walde, zeichneten sich die Umrisse des alten Guntershausen gegen den blaugrauen Nachthimmel ab.

Wie viel hatte Eva in jenen Mauern erlebt – Heiteres und Trübes, Alles mit Lothar, oder doch um seinetwillen! Gleich beim ersten Zusammentreffen mit den verwaisten Kindern hatte er ihr am Besten gefallen. Werner, der Aelteste, war schon damals, als fünfzehnjähriger Knabe, still und ernst, saß den ganzen Tag über seinen Büchern und kam Eva, trotz seiner immer gleichen Freundlichkeit und Gefälligkeit, viel unnahbarer vor, als der um drei Jahr jüngere Lothar, obwohl dieser Eva so gut wie seine Schwestern bald mit äußerster Geringschätzung behandelte, bald mit Spott und Neckerei verfolgte. Wie oft hatte sich die sanfte Margaretha über seine Tyrannei beklagt! wie oft hatte die wilde Anna, die ihm sehr ähnlich war, mit blitzenden Augen erklärt: sie ließe sich den Uebermuth nicht länger gefallen! Die kleine Hedwig sogar, die noch auf dem Arme getragen wurde, hatte manche Thräne um den neckischen Bruder vergossen – nur Eva hatte sich immer geduldig mit einer Art von Märtyrerlust seinen Launen gefügt.

„Sein Gesicht gefällt mir so gut!“ hatte sie in kindischer Naivetät geantwortet, als Anna sie fragte, warum sie sich so viel von Lothar gefallen ließe, – und jeden Märchenprinzen, jeden Helden, von Siegfried bis Roland und von Karl dem Großen bis zum alten Blücher, die heiligen Erzväter sogar und die Weisen Griechenlands konnte sie sich nicht mehr anders denken, als mit Lothars schönen Zügen, seinen glänzenden Augen, seinem freimüthigen stolzen Wesen.

Das Verhältniß war ein ganz anderes geworden, als er sie sechs Jahre später zur Bundesgenossin gegen Tante Ernestine erkor. Das fünfzehnjährige Mädchen stand dem achtzehnjährigen Jüngling gleich – in geselliger Gewandtheit war sie ihm sogar überlegen. Er fühlte sich wie beschützt und gehalten, wenn er an ihrer Seite Gesellschaftszimmer oder Ballsaal betrat. Und wie theilte sie seine Interessen, wie wußte sie ihn zu trösten, als er die ersten Verweise im Dienst erhielt, über einen offenen Knopf, der geschlossen sein sollte, über einen nachlässigen Gruß oder ein unziemliches Wort dem Lieutenant gegenüber; und wie verstand sie es, ihn zu ermuthigen, als er schon nach den ersten Dienstjahren verzweifeln wollte, daß es „gar nichts Gescheidtes zu thun gab“! So lebten sie sich mehr und mehr in einander ein. Tante Ernestinens Worte schienen wirklich ein Orakel gewesen zu sein.

Aber sie wurden getrennt. Die Aerzte schickten den General nach Nizza, Frau und Tochter begleiteten ihn. Der Aufenthalt verlängerte sich von Monat zu Monat, endlich von Jahr zu Jahr. Zu Ende des dritten Sommers wurde Hersenbrook in fremder Erde bestattet; Eva kehrte mit der Mutter in die Heimath zurück und fand – was sie natürlich schon aus Briefen wußte – Lothar als Isidorens Gatten.

Als Eva die Nachricht bekommen hatte, lag ihr Vater auf dem Todtenbette. Der eine Schmerz half ihr den andern tragen und verbergen. Die Generalin ahnte nichts von dem Kampfe im Herzen der Tochter, und als sie in die Heimath zurückkamen, war Eva so weit gefaßt, daß sie dem Verlorenen, aber noch immer Geliebten äußerlich ruhig entgegen treten konnte. Aber sie sah ihn selten und niemals allein. Er schien ihr auszuweichen, und sie that nichts, seine Scheu zu besiegen, denn sie war zu stolz ihm zu zeigen, wie sie litt, und nicht stolz genug, um ihrer Kraft unter allen Verhältnissen sicher zu sein.

Sie war sehr arm und sehr einsam geworden, aber sie verzweifelte nicht und ging nicht an ihrem Schmerz zu Grunde. War auch die beste Lebensfreude dahin, so gab es doch für sie, wie für Jeden, der den rechten Willen hat, mancherlei zu thun, was ihre Tage ausfüllte und nach und nach ihr auch wieder eine Art von Befriedigung brachte. Glücklich war sie nicht, aber es war still und klar in ihr – sie glaubte auf immer überwunden zu haben.

Aber Isidorens Tod machte dem Frieden ihrer Seele ein Ende. Alle Hoffnungen, alle Wünsche, die sie auf ewig versunken glaubte, tauchten wieder auf, und mit ihnen die Qual der Erwartung. Sie hörte von Lothars Verzweiflung – wer konnte ihn besser trösten, als sie? Daß sie mehr für ihn zu sein begehrte, als Schwester oder Freundin, gestand sie sich selber nicht. Erst als mit der Erwartung die Sehnsucht wuchs, kam ihr zum Bewußtsein, daß es die alte, unsterbliche Jugendliebe war, die ihr Herz durchglühte.

Jahr auf Jahr verging, Lothar kam nicht. Er verkehrte überhaupt mit Niemand, als mit seinen Gutsangehörigen, die ihn lieb hatten, trotz seines finstern Wesens, denn er war in aller Noth ihr Berather und Helfer.

Eva’s Leben ging inzwischen im gewohnten Gleise fort. Jeden Winter verlebte sie in der Hauptstadt und jeden Sommer kam sie – zur Verzweiflung der Mutter – als Fräulein von Hersenbrook nach Eichberg zurück. Sie hatte resignirt, d. h. sie wünschte noch immer, aber sie hoffte nicht mehr – und nun war’s so plötzlich erfüllt, wonach sie sich so lange gesehnt hatte. Aber war es zum Heil – ob für sie selbst, danach fragte sie nicht – war es zum Heil für Lothar? War sie noch frisch und freudig genug, um, wie er es ausdrückte, seinem düstern Hause Sonnenschein zu geben? Und war’s Unglück oder Wankelmuth, was ihn bisher, wie die Generalin richtig geschildert hatte, von einem Extrem zum andern trieb? – Würde er sich je in irgend einem Verhältnisse bescheiden lernen, an irgend einem Wesen in treuer Liebe halten?

Diese Fragen drängten sich ihr immer und immer wieder auf, und sie war zu keiner Lösung gekommen, als der Wagen vor dem Verwalterhause von Eichberg hielt, das vorläufig zu ihrem Aufenthalte eingerichtet war.




III.

Während Eva nach durchwachter Nacht im Morgenschlummer von ihren Sorgen ausruhte, ging ein Bote im Auftrage der Generalin nach dem zwei Stunden entfernten adeligen Fräulein-Stifte Fischbach, um Ihro Hochwürden Gnaden, der Frau Aebtissin Ernestine von Guntershausen einen Brief zu bringen, und es war noch nicht Mittag, als die fetten Mecklenburger der hochwürdigen Frau bereits die Auffahrt von Eichberg hinan keuchten.

Eva trat eben an’s Fenster; es war ja möglich, daß Lothar schon am Vormittag kam! aber statt des Ersehnten erblickte sie die alte blaue Stiftskutsche und erkannte die blau-weiße Livree der Tanle Ernestine. Eva ahnte, daß es nicht Zufall war, der die Aebtissin herführte, und obwohl sie sich der Hoffnung hingab, eine Bundesgenossin an ihr zu finden, scheute sie sich, in diesem Augenblicke, in dieser sehnsüchtig weichen Stimmung mit ihr zusammenzutreffen. Sie nahm ihren Hut und flüchtete durch Hof und Garten in’s Feld hinaus. Der Weg, den sie einschlug, zieht sich anfangs zwischen Wiesen im Thale hin, steigt dann jäh an der Bergwand empor, führt in den Wald hinein und endlich zu einer Rasenbank, die, von Buchen beschattet, von niedrigem Buschwerk umschlossen, nur nach einer Seite Aussicht gewährt, eine Aussicht über Baumwipfel und bewaldete Kuppen, zwischen denen sich in der Ferne eine schlanke Thurmspitze erhebt – die Spitze des Schloßthurmes von Guntershausen.

Wie oft hatte Eva auf diesem Plätzchen gesessen, in schwermüthige, hoffnungslose Träume versunken! Sie träumte auch heute, als sie so da saß, den Kopf an den Stamm der Buche gelehnt, die Hände im Schooß gefaltet, den Blick nach Guntershausen gewendet, aber sie hatte trotz aller Sorge um Lothar mehr süße, als bittere Gedanken, mehr lichte als trübe Phantasien, und ein innig glückliches Lächeln verklärte ihre sanften Züge. Plötzlich schreckte sie auf. Es rauschte etwas durch die Büsche. Jetzt wurden die Zweige ihr zur Seite auseinander gerissen, ein glühendes Gesicht sah daraus hervor, eine bekannte Stimme rief ihren Namen und im nächsten Augenblicke warf sich ein junges Mädchen mit Ungestüm an ihre Brust.

„Hedwig!“ rief Eva überrascht, „liebe Hedwig, wie bist Du

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_098.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)