Seite:Die Gartenlaube (1860) 100.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

„Gnädige Gräfin –“ fing er an. „Schon gut!“ fiel sie ihm in’s Wort; „führe ihn nebenan in’s blaue Zimmer und sorge, daß wir nicht gestört werden.“ Dann blieb sie einen Augenblick stehen – es sah aus, als ob sie sich besinnen müßte oder Muth fassen wollte – und ging endlich langsam, wie mit Widerstreben, in’s blaue Zimmer hinüber.

„Sie hatte die Saalthüre offen gelassen, und so hörte ich bald, daß sehr laut und heftig gesprochen wurde. Ich konnte unterscheiden, daß es die Stimme eines Mannes war, die ihr antwortete, aber verstehen konnte ich nichts. Ich fing an mich zu fürchten und dachte darüber nach, ob ich’s wagen könnte, an der blauen Stube vorbei zu schlüpfen – da höre ich, daß Isidore laut, wie im Zorne aufschreit, gleich darauf wird heftig die Klingel gezogen, in demselben Momente fällt aber auch ein Schuß … und nun halt’ ich mich nicht länger; ich will hinunterspringen, gleite aus, falle mit dem Kopfe an eine scharfe Kante; es braust mir vor den Ohren, meine Sinne vergehen – und so habe ich, wer weiß wie lange, in tiefer Ohnmacht gelegen.

„Als ich wieder zu mir selber kam, lag ich noch an derselben Stelle. Ich raffte mich auf und suchte es mir klar zu machen, wie viel in den Erinnerungen, die jetzt auf mich einstürmten, Wahrheit wäre, oder Traum. Eben war ich im Begriff über die Schwelle zu treten, da sah ich, daß Joseph den Gang herauf kam. Zu gleicher Zeit wurde die Thür der blauen Stube geöffnet, mein Bruder trat heraus. Trotz der Dämmerung, die im Gange herrschte, sah ich deutlich, wie blaß und verzerrt sein Antlitz war, und mit einem Tone, den ich nie, nie vergesse, rief er dem Alten zu: „Es ist keine Hoffnung, sie ist todt.“

„Darauf gingen sie beide in’s Zimmer zurück, und ich wankte hinaus. Wie ich das Schloß verlassen habe, wie ich durch den Garten gekommen bin – ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich vergebens darüber nachsann, wie ich mein Ausbleiben und meinen Zustand erklären sollte. Ich ängstigte mich vergebens; noch ehe ich heimkam, war Joseph gekommen und hatte Tante Ernestine geholt. Sie kam erst am nächsten Morgen wieder. Isidore, hieß es, hätte das Nervenfieber und außer dem Arzte dürfe Niemand zu ihr, als Tante Ernestine, Lothar und Joseph. Am Abend des zweiten Tages sollte sie gestorben sein – auch jetzt sollte der Ansteckung wegen Niemand sie sehen, und die Beerdigung sollte aus demselben Grunde schon am nächsten Tage stattfinden.

„Aber ich mußte sie sehen! Als die Dienerschaft beim Essen war, schlich ich hinauf – ich begreife nicht, wie ich den Muth dazu hatte. Aber es war ein unüberwindliches Verlangen in mir, die Wahrheit zu wissen. Mein Unternehmen gelang. Es war Niemand bei der Leiche. Die Läden waren geschlossen, die dunkeln Vorhänge zugezogen. Ein Ruhebett stand mitten im Zimmer, und darauf lag Isidore, von brennenden Kerzen umgeben. Wie schön sah sie aus! Die schweren, blonden Flechten lagen wie ein Kranz über der weißen Stirn; die Augen waren geschlossen, wie zum Schlummer. Die feinen Züge sahen in dieser ernsten Ruhe viel edler aus, als sonst, und doch war das bezaubernde Lächeln geblieben, das ihrem Munde einen so eigenthümlichen Reiz gab.

„Aber ich war nicht gekommen, um sie zu bewundern. Ihre Hände lagen gekreuzt über der Brust, ich hob sie auf. Die eisige Kälte durchschauerte mich bis in’s Innerste des Herzens. Ich ließ mich nicht irren; ich hob auch das Gewand … unter der Brust an der linken Seite war die Haut zerrissen; das Fleisch quoll blutig roth aus der Wunde hervor … Mein Gott, mein Gott, wie hat mich das Bild verfolgt!“

Hedwig hatte schon eine Weile zu sprechen aufgehört, und noch immer saß Eva in sich zusammengesunken da. Endlich erhob sie den Kopf.

„Und Lothar?“ fragte sie, „hast Du niemals Aufklärung von ihm verlangt?“

Hedwig schüttelte den Kopf.

„So will ich ihn fragen,“ sagte Eva. „Und sieh, wer da kommt,“ fuhr sie fort, auf den gegenüberliegenden Bergabhang deutend, wo eben eine hohe Männergestalt zwischen den Bäumen sichtbar wurde. „Da ist er! – er hat uns gesehen, er kommt hierher.“

Hedwig sprang auf. „Laß mich, laß mich,“ sagte sie ängstlich bittend. „Ich kann nicht mit Lothar darüber sprechen, ich kann es nicht.“ Aber Eva legte die Hand auf ihren Arm.

„Du bleibst,“ sagte sie streng. „Es ist genug, daß Du ihn jahrelang schweigend beschuldigt hast; jetzt sollst Du die Wahrheit hören … Es ist ja nicht möglich, daß er ihr Mörder ist!“

Zitternd setzte sich Hedwig wieder und lehnte den Kopf an Eva’s Schulter, während diese traurig, aber vertrauensvoll dem Kommenden entgegensah.

(Fortsetzung folgt).


Ein Mann der Volksschule.

Der 29. Februar, dieser Sonderling unter den Tagen des gegenwärtigen Jahres, erinnert an einen deutschen Schulmann, der leider durch die brutale Gewalt unserer heutigen Dunkelmänner in den Hintergrund gedrängt ist – an den hochverdienten Pädagogen Gustav Friedrich Dinter, welcher an diesem Tage vor gerade 100 Jahren, den 29. Febr. 1760, in der Stadt Borna bei Leipzig geboren ward. Dinter gehört zu den Begründern des heutigen deutschen Volksschulwesens, denn nicht allein sein Heimathland Sachsen, sowie sein zweites Vaterland Ostpreußen konnte sich seiner langjährigen, directen Wirksamkeit als Schulmann und Leiter der Schulen erfreuen: die gesammte deutsche Schule blickt auf ihn als leuchtenden Stern, dessen Strahlen manches dunkle Lehrzimmer Leben erweckend und befruchtend erhellten. Doch nicht der Schulmann allein ist es, welchen die dankbare Menschheit in Dinter zu verehren hat, so bedeutungsvoll und segensreich seine Stellung als solcher auch immer gewesen sein mag: der Geistliche in des Wortes edelster Bedeutung, der Gelehrte, der Menschen- und Wahrheitsfreund, der rastlos wirkende Beamte verdienen unsere Hochachtung und Verehrung nicht minder, da er in allen diesen Beziehungen sich über viele seiner Zeitgenossen glänzend erhebt, also Grund genug, von dem Gezücht der Dunkelmänner, der Servilen und Faulen wie im Leben, so auch nach seinem Tode gehaßt, angefeindet und verfolgt zu werden. Es hieße den Glauben an die Menschheit aufgeben, wollte man meinen, daß ihm die Nachwelt nicht gerecht werde, denn sein Wahlspruch: Menschenbildung, Menschenveredlung, Menschenwohl war der Ziel- und Angelpunkt seines langen, in rastloser Thätigkeit vollbrachten opferreichen Lebens. Wer für solche Aufgabe gelebr und gestrebt hat, kann, ja darf nicht vergessen werden. Möge das Nachstehende einen Blick in Dinter’s Leben und Wirken gestatten.

Die Volksschule des 18. Jahrhunderts, besondern der ersten zwei Drittel, war in einen elenden, geisttötenden Mechanismus versunken. Ein allen geistigen Aufschwung niederhaltendes Gedächtnißunwesen war die einzige Lebensäußerung in den Schulen des Volkes, während die Gelehrtenschule ihre Aufgabe in die Bildung tüchtiger Lateiner und Griechen setzte, denen allerdings nur zu oft die Fähigkeit abging, einen nur leidlichen Aufsatz in reinem Deutsch schreiben zu können. Die meisten Lehrer des Volkes waren für ihren hochwichtigen Beruf nicht vorbereitet worden, sondern gehörten vor dem Eintritte in denselben einem ganz andern Stande an, ja selbst noch in der Zeit, in welcher sie bereits das Lehramt verwalteten. Alte, ausgediente Unterofficiere, kaum fähig ihren Namen zu schreiben; im Herrendienste ergraute Bediente, welche sich in einer vieljährigen Dienstzeit einen äußeren Takt angeeignet, doch in derselben allen freien Menschensinn verloren hatten; Handwerker, deren Berufsthätigkeit sie auf die Stube beschränkte, und deshalb nach den Begriffen jener Zeit geeignet zur Aufsicht und Unterweisung der Jugend; endlich einige junge Leute, welche entweder bis Tertia oder Secunda eines Gymnasiums gekommen, oder von einem Pfarrer in einigen Elementarkenntnissen unterrichtet worden waren: das waren die Lehrer des Volkes. Wie die Arbeiter, so das Werk. Ein elender, geisttödtender Mechanismus herrschte in den Schulen und unterdrückte jede geistige Regung, der Bakel ward mit kräftiger Hand geschwungen und statt naturgemäßer Entwicklung ward „eingebläut“. Nur der Unverwüstlichkeit der Menschennatur ist es zu danken, daß es mit der Volksbildung nicht noch weit schlimmer stand, ja noch steht, da die Bildung des Volkes der Gegenwart auf der des vorhergehenden Geschlechtes ruht. Die Erkenntniß jenes traurigen Zustandes blieb

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 100. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_100.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)