Seite:Die Gartenlaube (1860) 250.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

den liegendes Blatt heftend. „Wie schön, wie schön!“ fuhr er mit leiserer Stimme fort. „Dieser liebliche Frauenkopf, von schwarzen Locken eingefaßt!“ Immer unvernehmlicher wurde die Stimme, die noch vor kurzem in unvergleichlicher Fülle zur Freude Aller, die sie zu hören so glücklich waren, erklang. Mit dem Zeigefinger der rechten Hand schrieb er Buchstaben in die Luft, erst hoch, und dann, als auch die Muskeln des Armes ihren Dienst zu versagen begannen, auf die über seine Kniee gebreitete Decke. Noch einmal und zum letzten Male wurde die Stimme des Sterbenden deutlich; „Licht! mehr Licht!“ waren die letzten bedeutungsvollen Worte, die über seine Lippen kamen; sanft, den Umstehenden kaum merklich, schlummerte er darauf zum Nimmererwachen ein, zu derselben Tagesstunde, in welcher er geboren war, in der Stunde, wo das Gestirn des Tages seinen höchsten Stand erreicht hat.




Ich sollte vielleicht hier Abschied vom Leser nehmen, es Jedem überlassend, was er von jener sonderbaren Musik denken wolle. Doch würde ich damit nur die eine Hälfte der Aufgabe, welche ich mir gesetzt, erfüllt haben. Diese eine Hälfte bestand darin, dem Leser Kunde zu geben von jenem geheimnißvollen, noch wenig bekannten Ereigniß, welches gewiß nicht ohne poetisches, Vieler Gefühl ansprechendes Interesse ist. Ich wünsche mich aber noch ein wenig mit meinem werthen Leser darüber zu unterhalten, wie wohl die wunderbare Musik zu erklären sein mag.

Vielen dürfte es nicht uninteressant sein, bei dieser Gelegenheit zu erfahren, daß in Goethe’s Hause, so lange die Goethe’sche Familie noch darin wohnte, ein Spiritus familiaris sein Wesen trieb. Derselbe zeigte die Eigenthümlichkeit, daß er nicht wie andere Gespenster zur Nachtzeit, sondern am hellen Mittag spukte. Seine Wirksamkeit beschränkte er nicht allein auf das Haus, welches Goethe in der Stadt bewohnte, sondern er ließ sich auch mitunter in dem bekannten Gartenhaus am Stern sehen. In letzterem befand sich Goethe an einem Sonntagvormittag im Sommer des Jahres 1824. Eben schlug es zwölf Uhr in der Stadt, die Julisonne schien warm und glänzend von der Mittagshöhe hernieder, als Goethe aus der Hausthüre trat, um nach der Stadt zu gehen. Vor dieser Hausthüre befindet sich ein kleiner gepflasterter Platz. Zu seiner Ueberraschung fand Goethe beim Heraustreten hier ein ihm völlig fremdes Mädchen, in den Händen emsig einen Reisbesen führend. „Ei, mein Kind, wo kommst denn Du her?“ redete Goethe sie an. Das Mädchen aber fuhr fort, den Platz vor dem Hause eifrig zu kehren, ohne Goethen anzublicken oder ihm eine Antwort zu geben. „Nun, das ist doch seltsam,“ sprach Goethe, „antworte mir, wer bist Du denn?“ Aber das Mädchen antwortete nicht und kehrte ruhig weiter, und während ihr Goethe verwundert zusah, wurde ihre Gestalt plötzlich undeutlich, nebelhaft und löste sich gänzlich in den Strahlen der Sonne auf.

Auch die Rolle des Klopfgeistes spielte dieser merkwürdige Spiritus familiaris, und zwar zu einer Zeit, als die Klopfgeister von Profession noch lange nicht erfunden waren. Am liebsten übte er seine Kunst in einer Remise, die sich gerade unter Goethe’s Arbeitszimmer befand. Da fing er oft an zu klopfen und zu pochen, wie Holzmacher, wenn sie einen widerspenstigen Wurzelstock spalten. Schickte dann Goethe hinunter, um sich nach der Ursache des ungebührlichen, ihn störenden Lärms zu erkundigen, so war nichts zu hören und zu sehen. Kaum war aber die Untersuchungscommission wieder fort, so begann der Klopfgeist seine nichtsnutzige Arbeit wieder. Es sind eben närrische, neckische Käuze, diese Spiritus familiares.

So erzählte Goethe selbst einer ihm sehr nahe stehenden Person, aus deren Munde ich diese Mittheilungen empfangen habe. War es ihm wohl damit Ernst? – Es ist bekannt, daß Goethe eine große Hinneigung zum Wunderbaren und Geheimnißvollen hatte; dasselbe gewährt ja jeder lebhaften Phantasie eine angenehme Aufregung. Diese Neigung bewog den edlen Meister nicht selten, in munterer Laune Den und Jenen zu mystificiren. So wird es wohl auch mit jener Geschichte vom Spiritus familiaris sich verhalten haben.

Gesetzt aber auch, wir dürften die werthe Persönlichkeit des Goethe’schen Klopfgeistes nicht bezweifeln, so können wir doch nicht wohl annehmen, daß dieser Spiritus, dessen Wirksamkeit sich bis dahin lediglich auf Pochen, Rumoren und auf die Führung des Kehrbesens beschränkt hatte, plötzlich musikalisch geworden sei und jene ätherischen Töne hervorgebracht habe.

„Ah, ätherisch! vielleicht ist damit das rechte, das erklärende Wort ausgesprochen. Es läßt sich wohl denken, daß in den Augenblicken, wo ein so mächtiger Geist, wie der Goethe’s, im Begriff ist, aus dem irdischen Leben zu scheiden, wo er gewissermaßen noch halb dieser und schon halb jener Welt angehört, daß in solchen Augenblicken ein Herüberragen, ein Herübergreifen des Überirdischen in das Irdische statt fände, und daß dieses Herübergreifen des Ueberirdischen sich unserem Gehörsinn in der Form von Tönen, die mit der Musik der Sphären verwandt oder identisch sind, bemerkbar machte.“

Wohlan, halten wir einen Augenblick diesen musikalischen Zipfel einer außerirdischen Welt fest und betrachten, aus welchem Gewebe er besteht. – Sehr viele Leute reden von der Musik der Sphären, ohne eine Idee davon zu haben, was eigentlich darunter zu verstehen ist. Pythagoras stellte vor einigen tausend Jahren die Idee auf, jeder der Planeten, zu denen er auch Sonne und Mond rechnete, habe seine eigenthümliche Sphäre, in welcher er sich bewege. Diese Bewegung durch den Aether bringe einen Ton hervor, der für jede Planetensphäre ein anderer sei, je nach der Größe des Planeten, nach der Schnelligkeit seines Umschwunges und nach seiner Entfernung von der Erde. Bei der nirgends mangelnden Vollkommenheit des Weltgebäudes sei mit Bestimmtheit anzunehmen, daß jene verschiedenen Töne zusammen eine vollkommene Harmonie bilden. Das also ist die ofterwähnte Musik oder Harmonie der Sphären, von der noch nie Jemand, auch Pythagoras nicht, einen Ton vernommen hat. Es ist gewiß, daß die Weltkörper ihre gewaltigen Bahnen in völligem Schweigen wandeln, weil der Weltäther, den sie dabei durcheilen, wohl zur Erzeugung von Lichtwellen, nicht aber von Schallwellen geeignet ist. Der Schall braucht zu seiner Entstehung ein viel dichteres Medium. Schon die verdünnte Luft auf hohen Bergen ist ein sehr schlechter Schallleiter.

Um einen körperlichen Gegenstand mittels des Gehörsinnes wahrnehmen zu können, ist es nothwendig, daß dieser Gegenstand auf mechanische Weise in Schwingungen, d. h. in eine zitternde (oscillirende) Bewegung versetzt werde. Diese Schwingungen theilen sich der umgebenden Luft mit, in welcher sie Wellen, die sogenannten Schallwellen, bilden. Dringen die Schallwellen bis zum Gehörorgan, so empfängt der Gehörnerv einen Reiz, der im Gehirn als diejenige Sinnesempfindung, die wir „hören“ nennen, wahrgenommen wird. Die Luft ist allerdings in den bei weitem meisten Fällen das Mittel, welches die Schallwellen zu unserem Ohr leitet. Aber auch viele andere Körper außer der Luft (z. B. Holz, Wasser) sind dazu geignet, Schallwellen zu bilden.

Es gibt aber noch eine andere Art von Wahrnehmungen des Gehörsinns, die man als „subjective“ zu bezeichnen pflegt. Sie haben ihren Ursprung nicht außerhalb des hörenden Subjectes, sondern in ihm selbst; sie werden nicht durch die Einwirkung von Schallwellen, sondern durch anderweitige Reizungen des Gehörnerven erzeugt, welche meist krankhafter Natur sind. So bringt z. B. Blutandrang nach dem Gehörorgan Ohrenklingen hervor.

Von „subjektivem“ Hören kann in unserem Falle nicht wohl die Rede sein, weil die fragliche Musik nicht von einer, sondern von mehreren Personen zugleich vernommen worden ist. Wir müssen also annehmen, daß wirklich Schallwellen von einem in Schwingungen versetzten Körper hervorgebracht worden sind, welche die Ohren jener Personen getroffen haben. Möglich ist es z. B., daß der Luftzug durch ein Kamin unter gewissen Verhältnissen einen Ton hervorbrachte, der von der Phantasie zu dem Range eines musikalischen Accordes erhoben wurde. Man darf nicht übersehen, daß die Hauptzeugen, durch Nachtwachen erschöpft und gemüthlich stark afficirt, sich in nervöser Spannung befanden. Auch auf die Gräfin ist dies, abgesehen von den Anstrengungen der Pflege und Wartung, anzuwenden. Möglich ist es ferner, daß, ungeachtet aller Versicherungen der Nachbarschaft, doch in einem naheliegenden Hause, vielleicht im Dachstübchen, musicirt worden ist. Und wenn weder diese, noch hundert andere Möglichkeiten aus dem Bereiche des Zufalls zugegeben werden, so glaube ich wahrlich zu Ehren der gesunden Vernunft lieber, daß eine vorwitzige Magd eine vergessene Aeolsharfe in einer Esse oder in einer Dachluke des Goethe’schen Hauses aufgehängt habe, als daß die Musik von den lieben Engelein oder anderen geisterhaften Wesen herrührte.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 250. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_250.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)