Seite:Die Gartenlaube (1860) 353.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

No. 23. 1860.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Der Letzte seines Stammes.
Aus den Papieren eines *schen Beamten.
Herausgegeben von J. F–e.

Am 20. September 1858, einem Montage, wurden zwei landesherrliche Jäger meiner engern Heimath, indem sie den Forst durchstreiften, auf ein eigenthümliches Gebell ihrer Hunde aufmerksam. Sie folgten ihm. Die Hunde waren in einem Dickicht von jungem Gebüsch. Die Jäger brachen sich Bahn durch die Zweige und fanden zu ihrem Grausen die Hunde vor einer Leiche, die unter den niedrigen Bäumen an der Erde lag. Der Todte war ein junger Mann, höchstens im Anfange der dreißiger Jahre. Er war wohlgekleidet, mit einem grünen Rock, grauen Beinkleidern, Alles von gutem Tuche. Ein feiner, niedriger Filzhut lag neben ihm. Eine neue lederne Jagdtasche lag halb auf ihm, auf Leib und Brust. Der Riemen, an dem er sie getragen hatte, zog sich noch um seine Schulter.

Der Todte war eines gewaltsamen Todes gestorben. Blut quoll ihm aus der linken Seite der Brust. Die Jäger untersuchten die Stelle näher und fanden eine Schußwunde. Als Sachkenner konnten sie sich nicht täuschen. Ein Gewehr war in der Nähe nicht zu entdecken. An einen Selbstmord war daher nicht zu denken. Es konnte nur ein Verbrechen, ein Mord verübt sein.

Es mußte der Polizei und von dieser weiter dem Gerichte Anzeige gemacht werden, um das Verbrechen festzustellen und den Thäter zu erforschen, zu verfolgen und zur gesetzlichen Strafe zu ziehen. Einer der Jäger übernahm die sofortige Anzeige bei der nächsten Polizeibehörde. Der Andere blieb bei dem Leichnam auf Wache, bis die Beamten eingetroffen sein würden. Mit der Leiche nahmen sie nicht die geringste Veränderung vor. Sie untersuchten, ja, sie berührten sie nicht einmal weiter, damit das Gericht Alles in dem nämlichen Zustande vorfinde, in welchem sie es zuerst aufgefunden hatten. Daß der Tod eingetreten war, und Wiederbelebungsversuche völlig fruchtlos seien, davon hatten sie sich überzeugt.

Der Ermordete war den beiden Jägern unbekannt. Sie waren freilich Beide erst seit den letzten Jahren in der Gegend. Derjenige von ihnen, der zur Polizei gegangen war, hatte unterwegs Personen, die ihm begegneten, von der Entdeckung Mittheilung gemacht. Neugierige unter diesen waren in den Forst geeilt. Sie fanden den Weg zur Leiche. Einige von ihnen meinten den Todten zu erkennen. Sie waren indeß ihrer Sache nicht ganz gewiß. Irrten sie sich nicht, so war der Ermordete der Sohn einer Schulmeisterwittwe, die in einem etwa eine halbe Meile entfernt liegenden Dorfe wohnte. Er war seit drei oder vier Jahren aus der Gegend verschwunden, man wußte nicht wohin, und man hatte seitdem nichts wieder von ihm gehört. Er war ein Thunichtgut, ein Faulenzer, ein Herumtreiber gewesen, der seiner Mutter und seinen Schwestern nur Sorge und Kummer gemacht und den letzten Rest ihres Bischen Armuth verzehrt hatte. Daher auch die Ungewißheit über seine Wiedererkennung. Man hatte ihn nur schmutzig, zerlumpt gesehen. Woher jetzt die gute, Wohlhabenheit bekundende Kleidung? Man mußte Gewißheit haben. Einzelne gingen zu dem benachbarten Dorfe, in dem die Mutter und Schwestern wohnten.

Unterdeß waren wieder Andere gekommen, und der Todte[WS 1] war mit Bestimmtheit erkannt worden. Er war der Sohn der armen Schulmeisterwittwe. Franz Bauer war sein Name. Vor drei Jahren hatte er die Seinigen verlassen und gesagt, er wolle nach Amerika gehen, dort sein Glück zu versuchen, und werde entweder reich oder gar nicht wiederkommen. Vor vierzehn Tagen habe er seiner Mutter aus Antwerpen geschrieben, daß er soeben glücklich aus dem fremden Welttheile nach Europa zurückgekommen sei. Er sei in Californien gewesen und habe dort wirklich sein Glück gemacht. Er kehre mit vielem Gelde heim. In vierzehn Tagen spätestens hoffe er in der Heimath zu sein und seiner Mutter und seinen Geschwistern hundertfach wieder gut zu machen, was er so schwer an ihnen gefehlt und verbrochen habe. Eine Banknote von hundert Gulden hatte vorläufig gleich dem Briefe beigelegen.

Die Anwesenden bei der Leiche sahen mit einer unheimlichen Ungeduld der Ankunft des Gerichts, mit einer noch unheimlicheren dem Eintreffen der Mutter und der Schwestern des Todten entgegen. Die Armen! Jahrelang hatte der einzige Sohn, der Bruder, anstatt ihre Stütze zu sein, ihnen nur Kummer und Verdruß gemacht. Jahrelang hatten sie dann nur mit Angst und Zagen an ihn denken, von ihm reden können. Seit vierzehn Tagen war er ihre Freude, ihr Trost, ihre Hoffnung, und seit drei Tagen erwarteten sie ihn täglich, stündlich. Jedes Geräusch kündigte ihn ihnen an. Bei jedem Schritte, der sich ihrer einsamen Wohnung nahete, flogen sie an das Fenster, ihn zu sehen oder Kunde von ihm zu erhalten. Schritte naheten sich wieder ihrer Wohnung jetzt, in dieser nämlichen Stunde. Sie flogen an das Fenster. Er war nicht da, wieder nicht. Aber Kunde kam von ihm: „Er liegt im Walde, todt, ermordet.“ Sie stürzten hin zu dem Walde, Alle, selbst halb entseelt. –

Der Jäger hatte der Polizei die Anzeige gemacht, und diese hatte ihn sogleich weiter an das Gericht geschickt. Ich hatte als Untersuchungsrichter die Aufgabe, so schleunig wie möglich mich an

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Tode
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 353. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_353.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)