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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

„Gern, gern.“

Er gab ihr den gefüllten Hut. So kehrte er mit ihr zu dem Invaliden zurück.

„Noch ist Polen nicht verloren“

endete der Leierkasten.

Henriette schüttete den Inhalt des Huts in die Taschen des Leierkastenmanns. Der General half ihr. Der Invalide hatte so viel Geld in seinem Leben nicht beisammen gesehen.

„Mein General!“ stotterte er erschrocken. Er wollte dem Grafen die Hand küssen.

„Dem Fräulein da,“ rief der Graf. „Ihr allein verdankst Du es.“

„Nein, nein,“ wollte das Mädchen rufen. Aber sie konnte es vor Schluchzen nicht. Auch dem Invaliden kamen die Thränen aus den alten Augen, und der alte Graf mußte mit der Hand über die Augen fahren.

„Gehe jetzt, Alter,“ sagte er, „damit ihre rauschende Regimentsmusik wieder ihr Recht bekommt. Aber wenn auch die Landwehr jetzt nur auf den alten, invaliden Leierkasten Musik machen darf, wir gehen doch nicht verloren. Gott befohlen, alter Kamerad.“

Er gab dem Invaliden die Hand, und diesmal ließ er sie sich von ihm küssen. Dann wandte er sich wieder an das Mädchen zu seiner Seite.

„Darf ich Sie um Ihren Namen bitten, mein liebes Kind, ehe ich Sie zu Ihrer Gesellschaft zurückführe?“

„Ich heiße Henriette Grone.“

„Sie sind die Schwester der Frau Rother?“

„Ich bin ihre Schwester.“

„Hm, hm, ich hatte es gedacht.“

Er hatte es mit einiger Verstimmung gesagt. Aber in demselben Augenblicke strafte er sich.

„Sie sind ein braves Kind. Geben Sie mir Ihren Arm.“

Sie hatte seine Verstimmung nicht bemerkt. Sie sah nur seine Güte. Diese machte sie so glücklich. Das Glück machte sie zutraulich.

„Sie sind der Herr Graf von Hochstadt?“ fragte sie ihn.

„Ja, mein Kind.“

„Und waren früher General?“

„Auch das ist so.“

„Mein verstorbener Vater hat oft von Ihnen erzählt.“

„Ihr Vater?“

„Er hat unter Ihnen gedient.“

„In der Landwehr?“

„Ja. Er hat beide Feldzüge mitgemacht und als Lieutenant den Abschied bekommen.“

Sie sagte es mit Stolz, und der General sah sie mit stolzer Freude an.

„Und in Dir steckt echtes Landwehrblut, mein Kind. Schade – Aber komm.“

Er hatte wieder ihren Arm genommen. Er führte sie zu ihrem Tische zurück.

„Meine gnädige Frau,“ sagte er zu der schönen Wittwe, „ich wünsche Ihnen Glück zu einer solchen Schwester. Sie ist eine Perle.“

„Ah, Du hier, Ottomar?“ wandte er sich dann an seinen Neffen. „Sehe ich Dich auch einmal bei mir?“

„Zu Befehl, lieber Onkel.“

Der Onkel hatte die Antwort kaum abgewartet. Er kehrte stolz und langsam zu seinem Platze hinter dem Flieder zurück. Die Militairmusik begann einen stürmenden, siegenden Marsch. Drei Personen hörten aber keinen Ton des Sturmes, des Sieges.

Der Graf Ottomar von Hochstadt hatte plötzlich einen Blick auf das schöne, bescheidene Mädchen geworfen, das sein Oheim mit der ganzen ehrerbietigen Galanterie eines alten Aristokraten an seinen Tisch zurückgeführt hatte. Er hatte sie früher kaum flüchtig angesehen. Er hatte nur Augen für die stolzere Schönheit ihrer Schwester gehabt. Jetzt stand sie in dem vollen Schmucke ihrer durch die holdeste Verwirrung verklärten Schönheit vor ihm, und – seine Augen entdeckten auf einmal eine Kleinigkeit, aber welche zauberhafte Macht üben oft Kleinigkeiten aus! Sie stand vor ihm in einem Kleide, das er kannte, in dem blauen Kleide, das einst die schöne Wittwe getragen hatte, das dann als verbraucht in irgend einen Schrank auf die Seite geworfen war, und das heute gut genug war, die eleganteste Toilette der armen Schwester zu machen. Es war ihm wohl, als wenn er, nicht einen Stich, aber einen Riß in das Herz erhalten habe.

Henriette sah den Blick des jungen Grafen, und wie schon früher sein Anblick ihr das Herz hatte einengen wollen, so schoß ihr jetzt auf einmal ein scharfes Weh hinein, das als plötzlicher Schmerz in ihrem Auge sich widerspiegelte. Die schöne Wittwe hatte Beider Blicke beobachtet, und die „Perle“ tönte noch in ihren Ohren.

„Fahren wir nach Hause!“ sagte sie. „Es ist heute zu laut, zu rauschend hier.“

„Ich darf Sie doch begleiten?“ fragte der Graf.

Er sah die schöne Frau mit dem vollsten Blicke der glühendsten Leidenschaft an. Er war wenigstens ein verliebter junger Mann.

„Sie dürfen,“ drückte sie ihm zärtlich die Hand wieder.

Sie fuhren zur Stadt.




3. Eine Diebin?

Sie waren nach Hause zurückgekehrt. Die schöne Wittwe war mit dem Grafen Ottomar im Salon. Sie hatte wohl Gründe gehabt, mit ihm allein zu sein, und hatte der Schwester einen Wink gegeben; diese hatte den Salon verlassen. Henriette saß in dem Boudoir ihrer Schwester. Sie war allein dort und träumte. Es ist ein eigen Ding um ein junges Mädchenherz. „Es ist garstig von ihm!“ hatte sie für die Schwester gesagt, von dem alten Grafen, der so adelstolz war. „Es ist sehr garstig von ihm!“ sagte sie jetzt, recht ärgerlich und recht verdrießlich, und sie dachte wohl nicht an ihre Schwester, sondern träumte von ganz andern Dingen.

Der junge Graf hatte auf dem Rückwege zu der Stadt nicht immer glühende Blicke auf die schöne Frau geworfen. Er hatte bald auch Zeit zu einem sinnigen Betrachten des schönen, sanften und bescheidenen Wesens an ihrer Seite gehabt. Und dann hatte er sie nach Mancherlei und Allerlei fragen müssen: Wo sie bisher gelebt habe, bei welchen Leuten, in welchen Verhältnissen, womit sie sich besonders beschäftigt habe?

„Wie? Mit Schneidern und Putzmachen?“

Die schöne reiche Wittwe wurde glühend roth; sie wußte ihre Augen nicht zu lassen. Das einfache Mädchen aber fand in der Frage nichts.

„Es war keine schwere Arbeit,“ sagte sie, „und ich verdiente genug damit.“

„Wie? Für Ihren Unterhalt mußten Sie arbeiten?“

„Nun ja.“

Die Wittwe war leichenblaß geworden, und sie mußte so wohl nicht schön und reizend sein. Der Blick des Grafen hatte sie getroffen, aber er schien nicht gern auf ihr verweilen zu wollen. Er kehrte zu dem einfachen Mädchen zurück, das in ihrer freundlichen Bescheidenheit doppelt schön war.

Das Alles, oder viel davon, mochte ihr Träumen ihr wiederholen, mit manchem Anderen dazu. „Sehr garstig war es von ihm!“ hatte sie wiederholt. „Und sie ist so reich,“ sagte sie weiter, „so schön, so sehr schön. Und ich bin ein armes Mädchen, das nichts hat, das schneidern und Putz machen muß, um zu leben, und ihm war der Gedanke daran schon unangenehm; man sah es ihm deutlich an. Ach, es ist doch wohl recht traurig, ein armes Mädchen zu sein!“

In diesem Augenblicke öffnete sich die Thür des Boudoirs, langsam und leise, wie am Nachmittage, als die Madame Rother sich im Spiegel bewundert hatte. Es trat auch wieder ein blasser, abgehärmter Mann in das Zimmer, aber jetzt mit fast entstellten Zügen, mit Blicken, aus denen Verzweiflung und ein Entschluß der Verzweiflung sprach. Er machte die Thür wieder hinter sich zu. Dann erst sah er sich in dem Zimmer um. Er sah das Mädchen; er stutzte.

Henriette hatte ihn mit Schrecken eintreten sehen. Es war schon dunkler Abend. Im Hause war Alles still gewesen. Auf einmal war ein fremder Mensch bei ihr, mit jener Miene eines unheimlichen verzweiflungsvollen Entschlusses. Sie war allein und war aufgesprungen. Sie wollte fliehen. Hülfe rufen. Der Fremde vertrat ihr den Weg. Da erkannte er sie aber auch.

„Henriette, Du hier?“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 514. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_514.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)