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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

nur allein unter diesen nicht zum zweiten Male auf der Erde vorkommenden Verhältnissen möglich, nothwendig und wirklich wurden, so kann man in Schöppenstedt oder Buxtehude leicht herausgeworfen werden.

Alle Abende über 600,000 Gasflammen, alle Tage über 15,000 Omnibuse und Droschken, 17 große Eisenbahnhöfe mit mehr als hundert Stationen innerhalb Londons, Eisenbahnen über den Häusern und Straßen hin – das sind schon gefährliche Themata für den Londoner Deutschen in der Bürger-Ressource zu Posemuckel. Aber Eisenbahnen unter der Erde, unter den Häusern und Straßen Londons hin, unter dem ungeheuren unterirdischen Lebensadersysteme der Cloaken, Wasser- und Gasröhren und elektrischen Nervendrähte – das gilt für offenbare Aufschneiderei und Verhöhnung kleinstädtischer Philister-Weisheit. Außer und neben den unterirdischen Adern und Nerven, den Cloaken, Wasser- und Gasröhren, den elektrischen Drähten, den Eisenbahnen – noch ganze unterirdische gewölbte Straßen, 7 Fuß 6 Zoll, also hoch genug für den größten Mann, darin aufrecht umherzuwandeln, und 12 Fuß breit, neue Haupt-Cloaken als Pfort-Adern für den Abfluß alles Schmutzes von drei Millionen Menschen und aus einer halben Million von Küchen – der eine davon acht englische Meilen lang, 9 Fuß hoch und eben so breit, ein anderer zehn Meilen lang und 10 Fuß 6 Zoll hoch mit eben dieser Breite, ein dritter und vierter von ähnlichen Verhältnissen, unterirdische Riesenbauten, um den mehr als 300 Meilen langen, unter allen Straßen hinlaufenden, gemauerten, aus jedem Hause getränkten Abflußadern Auswege zu verschaffen.

Das sind allerdings fabelhafte, mit Nacht und Grauen, mit Unglaublichkeit bedeckte Wunder des unterirdischen London. Gleichwohl ist jeder Zoll davon massive, gemauerte Thatsache. Wer London über dem Steinpflaster kennt, wundert sich über diese unterirdischen Wunder höchstens insofern, als sie jetzt erst im Werke und Werden und nicht längst vollendet sind. Oben war längst kein Platz mehr, da ein Acker leerer Boden in der City schon vor Jahren mit 85,000 Pfund oder viel mehr als einer halben Million Thaler bezahlt ward, und der Raum auf den Straßen längst nicht mehr für die ewig rollenden und knatternden Millionen von Rädern und Pferdehufen hinreicht.

„Kann ich die Oberen nicht bewegen, nehm’ ich zum Acheron meine Zuflucht.“ Man baut also endlich ein London unter London. Wo das Pflaster so theuer ist, daß man durch Pflasterung mit purem Golde den leeren Boden nicht erkaufen kann, da bezahlt sich’s schon, sich unten durchzumauern. Andere wölben neue Eisenbahnen über den Häusern und Straßen und der Themse hin, so daß wir ein unterirdisches London entstehen und das überirdische sich nach allen Seiten erweitern und ausdehnen sehen.

Wir sehen uns zuerst das unterirdische an. Um zunächst eine Vorstellung von den Cloakenstraßen zu bekommen, brauchen wir nur zu bedenken, daß die drei Millionen Bewohner Londons in 3000 Straßen und 600,000 Häusern wohnen, und aus jedem Hause aller flüssige Unrath durch je zwei bis fünf Canäle in die Cloake der Straße abläuft, um durch letztere einem größeren Verbindungscanale zugeführt zu werden. Letztere münden wie Nebenflüsse in die großen Hauptströme der neuen 9 und 10 Fuß hohen, meilenlangen Abzugs-Passagen, die den zusammenströmenden Unrath dieser ungeheueren Menschenmassen und den Spülicht aller Köchinnen Londons nicht mehr, wie bisher, in die Themse, sondern weit hinaus in östliche Niederungen abführen, wo der auf jährlich 600,000 Pfund abgeschätzte Dung-Werth dieses „goldenen“ Paetolus extrahirt und in goldenen Weizen verwandelt werden soll.

Von der Industrie und dem Leben in diesen unterirdischen Straßen, den unzähligen Menschen und Hunden, die alle Tage in diese Schachte einfahren, um weggespülte silberne Löffel und goldene Ringe zu nehmen, wenn sie sie finden, sich sonst aber mit Knochen, Papierfetzen und sonstigen proletarischen Stoffen zu begnügen oder Ratten zu fangen (todt für Pasteten-Bäcker und sonstige Gourmandie, lebendig für die Rattenhetz-Clubs, acht Pence bis einen Schilling per Dutzend), ließe sich manch schauerliches Nachtstück componiren, was wir aber für diesmal der „geneigten“ Phantasie der Leser zu eigener Besorgung überlassen wollen. Wir haben diesmal vollauf mit oberflächlicher Besichtigung zu thun.

London wird auch in jedem Hause, jeder Küche mit reinem Wasser versehen. Neun Compagnien pressen täglich über 50 Millionen Gallonen reines, wenigstens filtrirtes Wasser durch hundertmeilige, unterirdische Eisenröhren in die Cisternen der Häuser, von wo es theils durch Küchen, theils durch „Water-closets“, nachdem es seine Pflicht gethan und gewaschen, gespült und sonst irgendwie gereinigt und sich selbst mit Schmutz beladen hat, durch die Cloaken, die auch alles Regen- und Straßenwasser durch unterirdische Canäle aufnehmen, wieder abläuft. So wird London fortwährend in allen architektonischen Poren durchwässert, gereinigt und gewaschen, wodurch die größte Stadt der Welt ungeachtet des Giftes und der Galle und der Pestilenzien, die es fortwährend producirt, zugleich eine der gesundesten wird. Genaue Vergleiche der Sterblichkeit vor und nach Einführung solcher Drainage haben ergeben, daß in ein und derselben Stadt nachher bei vermehrter Einwohnerzahl 15 bis 25 Procent weniger Menschen starben. So wichtig für die öffentliche Gesundheit ist die Art, wie die Städte, und nicht blos Menschen, sich der Reinlichkeit erfreuen.

Man denke sich die unterirdischen Adergeflechte, die täglich über 50 Millionen Gallonen reines Wasser in jedes Haus der drei Millionen Menschen liefern und noch viel mehr mit allem Schmutze und Unrathe dieser ungeheuren „Civilisation“ wieder abführen müssen. Neben diesen unterirdischen Eisen- und Steinadern laufen die Röhren der Gas-Compagnien, welche die 600,000 öffentlichen „Brenner“ alle vierundzwanzig Stunden mit 20,000,000 Cubikfuß Gas versorgen. Außerdem brennen in manchem einzelnen Laden mehr Gasflammen, als in einer ganzen deutschen Kleinstadt Straßenlampen. Es gibt Läden mit mehr Straßen, als in Treuenbrietzen oder in Flachsenfingen aufzutreiben sind. Zudem hat jedes anständige Privathaus seinen Kronleuchter mit je fünf bis zehn und mehr Gasbrennern. London ist oft heller bei Nacht, als am Tage. Privatim werden noch alle vierundzwanzig Stunden gegen 25,000,000 Cubikfuß Gas verbrannt. Dies muß Alles aus Kohlen geschwitzt und durch mehr als tausend Meilen Röhren (mit allen Privatröhren, die in die Häuser führen und darin in verschiedene Etagen und Räume) fortwährend in etwa eine Million Lampen und Brenner gedrückt werden. Welch ein Geäder unter diesem London! Die Gasströme beschäftigen noch Hunderttausende von unterirdischen Uhrwerken oder Gasometern, die auf einem Zifferblatte mit zwei Zeigern zu jeder Zeit angeben, wie viel Cubikfuß Gas seit der letzten Zahlung in jedem Hause verbraucht wurden, so daß die neue Rechnung sofort danach ausgefertigt werden kann.

Neben dieser unterirdischen Circulation des Wassers und der Gasluft in dem Adersysteme zucken aber auch entsprechende Massen von Nerven, die Stadt- und Landes- und unterseeischen Telegraphendrähte, welche sich zugleich je 10 bis 30fach an allen Eisenbahnen oben, und für Stadtpost-Zwecke über den Häusern und Straßen hinziehen. Das elektrische Stadtpost-System ist noch im Werden. Wir haben früher einmal auf dessen Wesen und Umfang hingewiesen.

So haben wir bis jetzt die Riesenwerke der Cloaken und der Wasserversorgung, der Gasadern und der Telegraphen-Nerven unter dem Pflaster Londons. Dazu kommen nun aber nicht nur Eisenbahnen unterhalb aller dieser unterirdischen Labyrinthe, sondern auch noch eine ganz neue Art von Untergrund-Bauten, die „Sub-Wege“ genannt werden.

Bis jetzt ist Eine unterirdische Eisenbahn in Angriff genommen und über die Hälfte vollendet. Sie verbindet die beiden großen Eisenbahnhöfe der West- und der Nordbahn und dehnt sich als ungeheueres Gewölbe für doppelte Schienen etwa 3 Meilen lang unter dem nördlicheren Theile Londons hin. Für diejenigen, welche Localkenntniß oder eine topographische Karte Londons haben, fügen wir hinzu, daß sie größtentheils unter der New Road hin die „Great Western“ in Paddington mit der „Great Northern“-Eisenbahn (mit dem großen Bahnhofe in King’s Croß) verbindet. Weitere Ausdehnung nach der City etc. wird beabsichtigt, ist aber noch nicht endgültig beschlossen.

Als der Tunnel unter der Themse hin gegraben wurde, war alle Welt voll Staunen über dieses tollkühne Unternehmen. Von der jetzigen unterirdischen Eisenbahn wird nicht viel Wesens gemacht, obgleich sie viel mehr Unternehmungsgeist, Capital und gigantisches Maulwurfstalent in Anspruch nimmt. Welche ungeheuere Erd-, schwere Lehm- und Thonmassen mußten aus der Tiefe herausgeschafft und von der Oberfläche, wo sie sich nicht häufen durften, entfernt werden, um den kolossalen Raum für den Doppelschienenweg unten zu gewinnen! Und diese Gebirge von Mauersteinen,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 730. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_730.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)