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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Melodien kennen. Sonst sind uns all diese Dinge doch so unbekannt, trotzdem die Juden in unserer Mitte leben.“

„Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen.“

„Ah, es steckt eine Geschichte dahinter, das ist prächtig, erzählen Sie. Gewiß haben Sie einmal einer schönen Jüdin den Hof gemacht und sich, wie der Tenon in der Halevy’schen Oper, als Jude unter den Juden herumgetrieben.“

„Nein, es ist anders. Vor ungefähr zwanzig Jahren lebte in der Hauptstadt unserer Provinz ein Judenmädchen, das als ein Wunder der Schönheit gerühmt wurde. Nehmen Sie an, daß dieser Ruhm vollkommen und in allen Theilen gerechtfertigt war, und erlassen Sie mir die Beschreibung. Ich kann nur sagen, daß ich bis auf den heutigen Tag trotz aller meiner Reisen keine Frau, kein Mädchen gesehen, das sich mit dem Bilde, das in meiner Erinnerung lebt, hätte messen können. Diese schöne Jüdin, obwohl sie nahe wohlhabende Anverwandte hatte, war sehr arm, die Tochter sehr bedürftiger Eltern. Um diese zu ernähren, saß sie in einer elenden hölzernen Bude, weiche in einem der vielen äußeren Winkel eines alten fürstlichen Palastes stand, und verkaufte Watte und allerlei Baumwollenwaaren. Vor dieser Bude standen oft die Reisenden, um die größte Merkwürdigkeit der Stadt anzustaunen. Unter dem Vorwande, die Architektur des Palastes, seine Säulen, Bogen und Karyatiden zu betrachten – denn einer Sage nach sollten Plan und Zeichnung von Michel Angelo herrühren – gingen sie halbe Stunden lang um die Bude im Halbkreise herum und vergaßen Michel Angelo über der schönen Jüdin. Trotzdem der Neid den guten Ruf ungern bei der Schönheit wohnen läßt, erfreute sich Lea – so hieß sie – doch des allerbesten Leumundes, ihren Augen sah man es an, daß ihre Heiterkeit trotz aller Armuth eben so groß war, als ihre Schönheit, und die sie näher kannten, versicherten, daß ihre Güte hinter ihrer Schönheit nicht zurückstehe. Eines Tages kam der Fürst, dem der alte Palast gehörte, ein Mann von ungefähr dreißig Jahren, der den größten Theil seines Lebens bei Hofe zugebracht hatte, in die Provinzialstadt zurück. Er bewohnte eine Villa in der nächsten Nähe der Stadt, aber er wollte doch den alten verlassenen Palast seiner Väter in Augenschein nehmen und er sah wie alle andern Reisenden nur Lea. Sofort schämte er sich der 20 Gulden, die ihm, dem Besitzer des Winkels, den Lea als Mietherin mit ihrer Holzbude einnahm, seine Rente vermehrten. Er redete sie als ihr Miethherr an, er wollte ihr die Miethe für ewige Zeiten schenken; Lea wies das Geschenk zurück. Bald darauf verließ der Fürst die Villa und richtete sich in dem Palaste ein und zwar in einem Flügel, aus dessen Fenstern er Lea den ganzen Tag betrachten konnte. Der Scandal war bald sehr groß in der Stadt; Lea schloß ihre Bude und sie war brodlos, während es hieß, daß nun ein glänzendes, wenn auch nicht ehrenhaftes Leben für sie beginne. Man irrte sich. Der Fürst hatte nicht den geringsten Versuch gemacht, sie herabzuwürdigen; er liebte sie und – er heirathete sie. Nun erst war der Scandal in den zwei entgegengesetzten Classen der Gesellschaft, bei den Aristokraten und bei den Paria’s, den Juden, sehr groß. Die Aristokraten ärgerten sich über die Mesalliance, die Juden über die Taufe der schönen Jüdin. Aber auch dieser Scandal verrauchte. Der Fürst war mächtig, unabhängig und bei Hofe sehr einflußreich. Er hatte die Kaiserin, die sehr fromm war, beinahe von Anfang an auf seiner Seite, weil er durch die Taufe eine Seele gerettet hatte, und sie wünschte die schöne Fürstin in ihrer Nähe zu haben, um das gottgefällige Werk zu Ende zu führen und sie in den Glauben und seine Geheimnisse selbst einweihen zu können. Sie empfing sie, sie machte sie zu ihrer Hofdame, und kaum drei Jahre nach der Taufe war dieselbe Lea, die aber jetzt Therese hieß, welche in der Holzbude Watte verkauft hatte, Sternkreuzordensdame. Das scheint Ihnen unglaublich, aber was ich Ihnen hier erzähle, ist historisch. Der Fürst war eben ein Mann voll Energie, der seine Frau wirklich liebte und den der Widerspruch der Aristokratie gereizt hatte. Er hat von jeher durchgesetzt, was er wollte.

„Nicht so rasch wie die Aristokratie beruhigte sich das Judenthum. Die Fürstin Therese gehörte einer Rabbinerfamilie an, und die ganze Gemeinde betrachtete es als ein ganz besonderes Unglück und als eine noch größere Schande, daß ein Sprößling gerade dieses Stammes abgefallen war. Ein Theil ihrer Familie legte Trauer an, wie um einen Hingeschiedenen (doch nicht ihre Eltern, die sich in das Unvermeidliche fügten und die Tochter nach wie vor liebten), ein anderer Theil aber sah mit der Erhebung der Anverwandten eine glänzende Zukunft Heraufziehen. Und als es endlich sicher war, daß die Fürstin bei Hofe empfangen, die Freundin der Kaiserin und in Folge ihrer bezaubernden Schönheit und der Macht ihres Gatten eine höchst einflußreiche Persönlichkeit wurde, machte sich dieser Theil der Familie mit dem Gedanken, zum Christenthum überzugehen, vertraut, und es kamen schon da und dort einzelne Ueberläufer vor, die es nickt erwarten konnten, unter dem Schutze der hohen Anverwandten und als Christen ihr Glück zu machen. Zu der Familie gehörte auch ein ziemlich wohlhabender Mann, der anfangs über den Abfall Lea’s sehr entrüstet war und mit seinem zehnjährigen Knaben eifriger und fleißiger als je die Synagoge besuchte. Um sein Kind vor einem ähnlichen Abfall zu bewahren, ließ er es die fünf Bücher und die Propheten in der Ursprache studiren und hielt es mit größter Strenge zur Ausübung aller religiösen Formen und Ceremonien an. Aber denselben Knaben, der sich gewöhnt hatte, in der Frömmigkeit zu schwelgen, führte er ungefähr drei Jahre später in die Kirche und als sie wieder heraustraten, sagte er ihm, daß sie Beide nunmehr Christen seien. Der Knabe brach in Weinen aus, aber der Vater versicherte ihn, es sei so besser und er habe nur als guter Vater für seine Zukunft gesorgt. Wir verließen die Stadt und zogen in die Residenz, wo mein Vater in der That eine glänzende Carriere machte, denn er war eben so klug als unterrichtet – –“

„Wie!“ rief Else und hielt ihr Pferd an, „Ihr Vater?

Sie sprechen von Ihrem Vater? Sie sprechen von sich?“

„Allerdings! der Knabe, von dem ich spreche, war ich.“

„Unmöglich!“

„Doch! Ich erzähle Ihnen keine Märchen. Aber warum sind Sie so blaß? Ich sehe es selbst beim Mondschein, daß Sie erblassen.“

„Sie sind ein Jude? Sie scherzen; ich kann es nicht glauben.“

„Fräulein Else, ich scherze nicht.“

„Warum haben Sie mir das nicht früher gesagt?“ fragte Else mit einem Tone, der den bittersten Vorwurf verhüllen sollte.

„Wäre es mir je eingefallen, daß die Mittheilung Sie in solche Aufregung versetzen könne, ich hätte es längst gethan, oder ich hätte Ihre nähere Bekanntschaft nicht gesucht.“

Else ritt weiter; ich folgte ihr und fuhr fort: „Ich könnte Ihnen sagen, daß ich bei Ihrer Freundschaft für mich, bei Ihrer Bildung eine solche Mittheilung für überflüssig hielt, aber das wäre nur die halbe Wahrheit. Die ganze Wahrheit ist, daß ich nicht daran gedacht habe, daß ich es längst vergessen habe, jemals ein Jude gewesen zu sein. Von jenem Moment der Taufe an lebten wir nur unter Christen. Ich dachte nie an mein einstiges Judenthum, selbst nicht, wenn ich mit Juden zusammentraf. Nur wenn ich die alten Melodien meiner Jugend wieder singen höre, wie diesen Abend, wenn ich diese religiösen Bräuche wieder sehe, an denen ich einst mit ganzer kindlicher Seele hing, erwacht die Erinnerung so mächtig und wühlt mein ganzes Herz auf, daß ich weinen möchte – und wenn ich sehe, wie der Name noch immer Schrecken und Verzweiflung einflößt – wie vielleicht jetzt, so möchte ich gleich wieder abfallen, ein neuer Apostat, und hinüber laufen in das Lager der Schwächeren.“

„Was wird mein Vater sagen!“ rief Else.

„Darauf kommt es nicht an, mein Fräulein. Was Sie sagen, Sie, das ist das Wichtige, oder vielmehr was Sie verschweigen und was Sie nicht zu sagen brauchen,“ erwiderte ich mit einer Bitterkeit, deren ich mich Elsen gegenüber einige Stunden früher nicht für fähig gehalten hätte.

Else schwieg und ritt schweigend weiter; ich eben so schweigend neben ihr. Nach ungefähr einer Stunde hielten wir vor ihrem Hause. Ich sprang ab und half ihr vom Pferde. Dann schwang ich mich wieder in den Sattel.

„Was thun Sie?“ fragte Else. „Wohin wollen Sie?“

„Nach Amsterdam!“ rief ich, „vielleicht zur Kunstreitergesellschaft, vielleicht in die Synagoge! “

Und ich ritt in die Nacht hinein. Ich habe Else nie wieder gesehen.



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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 84. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_084.jpg&oldid=- (Version vom 28.8.2020)