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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

seiner schon werth wäre“. Das heißt mit andern Worten: wenn selbst ein so erleuchteter Despotismus für dasselbe entbehrlich wäre. Wem fällt nicht als Commentar hierzu das schwermüthige Bekenntniß des sterbenden Königs ein: „Ich bin es müde über Sclaven zu herrschen!“

So urtheilte Lessing über Friedrich, über den König, der ihn nicht kannte, nicht beachtete, und dessen Schwächen und Mängel er selbst schärfer als die meisten andern Zeitgenossen durchschaute, er, der mit seinem persönlichen Interesse das Opfer dieser Schwächen und Mängel wurde. Aber Lessing sah und ehrte in ihm den Helden und den Charakter, weil er selbst Beides, ein Held und ein Charakter, war.

Friedrich und Lessing, die Großen, waren groß, eben weil sie Charaktere waren. Denn der Charakter ist es, der den Menschen groß macht. Charakter nennen wir jenen Inbegriff von Grundsätzen des Handelns, der, durch immer neue Anwendung „im Strome der Welt“ ausgebildet und gewählt, stark genug ist, dem Wollen und Handeln des Menschen in jedem einzelnen Falle und siegreich gegen jeden Widerstand seine unerschütterlich feste Richtung zu geben. Durch den Charakter erst gewinnt der Mensch die innere Freiheit, gewinnt er die Würde des Bewußtseins, welche „Männerstolz vor Königsthronen“ verleiht, oder, wie Lessing es ausdrückt, die Würde, welche den freien Mann berechtigt, zu einem Könige zu sprechen: „Wenn auch mächtiger als ich, darfst du dich darum doch nicht besser dünken.“ Der Charakter ist die Basis und Voraussetzung aller Freiheit, auch der politischen. Das meinte Lessing, als er am Schlusse seiner Dramaturgie bitter klagend ausrief: „Ueber den gutherzigen Einfall, den Deutschen ein Nationaltheater zu schaffen, da wir Deutschen noch keine Nation sind! Ich rede nicht (fährt er fort) von der politischen Verfassung, sondern blos von dem sittlichen Charakter.“ Jenes kleine Wörtchen „blos“ ist bedeutungsvoll. Denn dies eine Wort drückt aus, daß der sittliche Charakter eben die Vorbedingung und Grundlage der wahrhaften Nationalität und ihres Ausdrucks in einheitlicher und freier nationaler Verfassung und Selbstständigkeit ist.

Zu dieser Vorbedingung aber, uns Deutsche zu erziehen, ist Keiner so geeignet als derjenige Mann, der vor allen Deutschen, nicht blos seines Jahrhunderts, dasteht als das unübertroffene, ja unerreichte Musterbild eines Charakters. „Ein Charakter wie Lessing thäte uns noth“, – klagte der greise Goethe am Abende seines Lebens im Hinblick auf die von der romantischen Reaction niedergedrückte Nation; „aber wo ist jetzt noch ein solcher Charakter!“ Sagen wir Alles in Allem: Lessing ist der deutsche Charakter, wie er sein soll, und darum war er und ist er uns in einer sclavischen Zeit der Freiste der Freien. Darum war er in einer Zeit, wo es ein Deutschland noch nicht gab, – selbst ein literarisches noch nicht, das er erst schaffen sollte – ein Deutscher, würdig des Deutschlands und der Zeiten, die auch uns erst noch kommen sollen, und die da sicherlich kommen werden, wenn die Saaten, die Lessing gestreut hat, voll und ganz aufgegangen sein werden in den Herzen aller deutschen Volksgenossen!

In Lessing’s Charakter liegt das Geheimniß der Macht seines Wirkens, dessen Umfang ich hier nicht weiter zu schildern brauche, weil ihn an dieser Stätte die beiden Festredner des vorigen Jahres mit meisterhaften Zügen dargelegt haben[1]. Der Charakter ist es, der Lessing immer noch größer erscheinen läßt, als jedes, auch das größte seiner Werke. Sein Genie, seine Thaten sind uns unerreichbar. Aber seinem Charakter können und sollen wir nachstreben; seine erhabenen, in keinem Augenblicke seines Lebens verleugneten Grundsätze des Wollens und Handelns, seine feurige Wahrheitsliebe, seinen unerschütterlichen Wahrheitsmuth, seinen Muth nicht der kupplerischen halben, sondern der ganzen Wahrheit, die können und sollen wir uns zu eigen machen!

Man hat unsere Zeit wohl geringschätzend „eine Zeit der Epigonen“ genannt. Nehmen wir diese Bezeichnung an, aber erinnern wir uns, woher dieser Name stammt. Er bezeichnete einst in den hellenischen Heroenzeiten die Nachkommen der im rühmlichen Kampfe vor Theben gefallenen Helden, er bezeichnete jene tapferen Söhne, die sich an dem Heldenthume ihrer Väter zur Wiederaufnahme und Vollendung des Werks begeisterten, das ihre Väter unvollendet gelassen. Und diese „Epigonen“ waren es, welche die feste Burg des Kadmos eroberten. Wohlan denn! Unsere glorreichen Vorfahren, Lessing voran, haben uns die Rüstung und Waffen geschmiedet, mit denen allein die festen Burgen der Geistesknechtschaft, der Inhumanität und Intoleranz bezwungen werden können. Brauchen wir diese Rüstung, diese Waffen! Sammeln wir uns Alle, – alle Söhne Deutschlands – unter dem Paniere des Kampfes für die Geistesfreiheit, das uns Lessing’s unsterbliche Gestalt vorträgt! Und weil wir denn Epigonen sind, lassen Sie uns streben gleich jenen alten, werth unsrer Väter – siegreiche Epigonen zu sein! –




Vorlesungen über nützliche, verkannte und verleumdete Thiere.
Von Carl Vogt.
Nr. 1.
(Schluß.)
Insectenfresser – Fledermaus – Der Maulwurf – Spitzmaus – Igel.

Unter den wesentlich verkannten und vorzugsweise mit Unrecht verfolgten Säugethieren stehen die Insectenfresser oben an. Meist kleine Säugethiere von unschönem, ja selbst häßlichem Aeußeren führen die in unseren Gegenden vorkommenden alle ein nächtliches, verborgenes Leben und erregen somit gegen sich alle jene Vorurtheile, welche Nachtthiere überhaupt erregen. Man sieht hieran so recht die Wahrheit des alten Sprüchwortes, daß die Nacht keines Menschen Freund sei. Was nur irgend in der Dunkelheit fleugt und kreucht, wird von dem Volksgefühle schon ohne weitere Untersuchung gehaßt und verabscheut, und es hält außerordentlich schwer, der Allgemeinheit die Ueberzeugung beizubringen, daß die Späher und Häscher, welche dem im Dunkeln schleichenden Verderber auf die Spur kommen wollen, auch den Gängen desselben nachspüren müssen und nicht am hellen Tageslichte ihrer Verfolgung obliegen können.

Fledermaus, Igel, Spitzmaus und Maulwurf sind die vier verschiedenen Gestalten, welche die Insectenfresser in unserer Zone repräsentiren. Ein Blick in den geöffneten Rachen eines dieser Thiere überzeugt uns unmittelbar, daß diese Thiere nur Fleischfresser sein können, noch fleischfressender, wenn man sich so ausdrücken darf, als Katzen und Hunde, die das System vorzugsweise Fleischfresser nennt. Die beiden Kiefer starren von Spitzen und geschärften Zacken; dolchähnliche Zahnklingen treten bald an der Stelle der Eckzähne, bald weiter hinten über das Niveau der Kronzacken hervor; scharfe Pyramiden, den Spitzen einer aus zwei Reihen doppelt geschärften Säge ähnlich, wechseln mit Zahnformen, welche den Klingen der englischen Taschenmesser nicht unähnlich sind. Die ganze Einrichtung weist darauf hin, daß diese Zähne dazu bestimmt sind, selbst hartschalige Insecten, wie Käfer, zu packen und zu halten. Diese Charaktere können nicht trügen; denn wie Brillat-Savarin, der berühmte französische Gastronom, den Satz aufstellen konnte: „Sage mir, was Du ißt, und ich sage Dir, was Du bist;“ so kann man auch von den Säugethieren sagen: „Zeige mir Deine Zähne, und ich, sage Dir, was Du ißt.“ Der Insectenfresser kaut und mahlt nicht mit seinen Zähnen; er beißt und durchbohrt nur. Seine Zahnkronen werden nicht von oben her abgerieben, sondern nur geschärft durch das seitliche Ineinandergreifen der Zacken des Gebisses. Man nehme sich nur die Mühe, das Gebiß eines kleinen Nagers, z. B. einer Ratte, mit demjenigen einer Fledermaus oder eines Maulwurfes zu vergleichen, und der unterscheidende Charakter Beider wird mit größter Bestimmtheit in die Augen springen. Das Gebiß einer Hufeisennase, zu den Maßen desjenigen eines

  1. Man s. „Die erste Lessingfeier in Leipzig“. Herausgegeben vom Schillervereine.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 124. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_124.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)